"Die Narben von Utøya"

"Der 22. Juli wird immer ein nationales Trauma sein": Zehn Jahre nach den Anschlägen von Oslo und Utøya

20.07.2021 von SWYRL/Elisa Eberle

Zehn Jahre nach den rechtsextremistischen Anschlägen durch Anders Behring Breivik in Norwegen blickt eine bewegende Fernsehdokumentation auf Phoenix zurück: Wie ist es den Überlebenden, den Angehörigen und den Rettern seit jenen Gräueltaten am 22. Juli 2011 ergangen? Was hat sich seither verändert?

Es war ein schwarzer Tag in der norwegischen Geschichte: Am 22. Juli 2011 verübte der Norweger Anders Behring Breivik gleich zwei rechtsextremistische Anschläge auf die Regierungsangestellten in Oslo, sowie wenig später auf ein Feriencamp der sozialdemokratischen Jugend auf der Insel Utøya. Etliche Menschen wurden dabei verletzt, 77 zumeist junge Menschen starben. Zehn Jahre später sind viele der Wunden, welche das Massaker in die norwegische Gesellschaft riss, noch immer nicht verheilt. Dies zeigt die beeindruckende Fernsehdokumentation "Die Narben von Utøya" von Hermann-Uwe Bernd, die Phoenix am zehnten Jahrestag um 20.15 Uhr im Rahmen der Reihe "mein ausland spezial" erstmals zeigt.

Hermann-Uwe Bernd wurde 1958 in Bad Ems geboren. Als Leiter des ZDF-Landesstudios Schleswig-Holstein ist er seit 2010 auch für die ZDF-Berichterstattung aus Skandinavien zuständig. Über die Anschläge von Oslo und Utøya hatte er live vor Ort berichtet. Heute bezeichnet er das Thema als eine oder sogar die "Geschichte meines Berufslebens". Die emotionale Nähe ist auch in der Dokumentation zu spüren: Das Leid der Opfer und die Wut der Hinterbliebenen werden so nahbar präsentiert, dass dem Publikum regelrecht ein Schauder über den Rücken läuft.

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"Ich dachte, ich müsste wählen, wie ich sterbe"

Astrid Willa Eide Hoem war 16 Jahre alt, als sie mit anderen Jugendlichen über eine steile Klippe vor Breivik flüchtete: Einige, so erinnert sie sich, hätten es nicht rechtzeitig unter den schützenden Felsvorsprung geschafft. Sie wurden vor ihren Augen erschossen. Kamzy Gunaratnam, seit 2015 stellvertretende Bürgermeisterin von Oslo, war ebenfalls auf der Insel: "Viele Leute sagten, dass ein Polizist auf uns schoss, sodass wir nicht die Polizei holen konnten." Somit blieb ihr nur die Flucht ins Meer: "Ich dachte, ich müsste wählen, wie ich sterbe, und ich würde lieber ertrinken."

Es sind Erlebnisse wie diese, welche die Opfer der Anschläge bis heute verfolgen: "Mein Sicherheitsgefühl ist bis heute weg", sagt eine Augenzeugin des Bombenangriffs in Oslo. Der Sicherheitsmann Espen Naumann wiederum berichtet von den Gewissensbissen, weil er nur einen von zwei Schwerverletzten retten konnte. Jørn Øverby, der elf flüchtende Jugendliche aus dem Meer zog, sagt, er habe seitdem keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen.

Aus Vertrauen wurde Wut

Doch es sind nicht nur die Opfer und Hinterbliebenen, die in dem knapp 45-minütigen Beitrag Gehör finden. Der Film beschäftigt sich auch mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Anschläge, mit dem Versagen der Behörden und dem Zusammenhalt in der Bevölkerung. Im Auftrag des Parlaments wurde nach den Anschlägen eine Untersuchungskommission eingerichtet. Das Ergebnis erschüttert, entspricht allerdings auch den Erwartungen vieler Norweger: Wegen der zeitgleich stattfindenden Ferien waren viele Polizisten im Urlaub, es gab zu wenige Boote, keine Hubschrauber und auch keine Strategie. Andernfalls hätten alle Menschen, die nach 18 Uhr starben, gerettet werden können.

Was macht diese Erkenntnis mit einem Land wie Norwegen, in welchem gegenseitiges Vertrauen und friedliches Miteinander für gemeinhin großgeschrieben werden, wie die Autorin Åsne Seierstad betont? "Der Zusammenhalt war am Anfang sehr groß", erinnert sich Lisbeth Røyneland, die ihre Tochter auf Utøya verlor. "Es lagen tonnenweise Rosen vor dem Dom und den anderen Stätten im ganzen Land. Das führte wohl auch dazu, dass wir es nicht wagten, so wütend zu sein, wie wir es damals eigentlich hätten sollen sein." Inzwischen sei der Zusammenhalt aber "fragmentierter": Es gebe mehr Diskussionen über Politik und Ideologien und leider auch viele Anfeindungen, die vor 2011 nicht vorstellbar waren. Hinzu kamen zahlreiche Nachahmungstäter in Norwegen, aber auch in Neuseeland 2019 oder in München 2016.

"Der 22. Juli wird immer ein nationales Trauma sein"

"Der 22. Juli wird immer ein nationales Trauma sein", sagt Jørgen Watne Frydnes, der ein neu errichtetes Gedenkzentrum auf der Insel leitet. Hier werden die Ereignisse der Anschläge dokumentiert. Doch nicht alle sind mit der Erinnerungskultur einverstanden: Die Pläne einer mehrere Meter hohen Gedenkstätte am Ufer stoßen bei den Anwohnerinnen und Anwohnern seit Jahren auf heftige Kritik: "Die Leute, die nicht hier wohnen, können ja hier herkommen, sich erinnern und wieder wegfahren, während wir 365 Tage im Jahr daran denken sollen, die ganze Zeit. Wir verstehen nicht, dass es möglich ist, so respektlos zu sein!", heißt es.

"Die Narben von Utøya" ist ein zutiefst erschütternder, aber auch wichtiger Film: Es werden Fragen über den Umgang mit selbstdarstellerischen Massenmördern wie Breivik gestellt: Wie viel Bühne sollten Gerichte ihnen bieten? Gleichzeitig fragt man sich aber auch, ob sich Schrecken und Terror wohl jemals aus der Welt schaffen lassen. Welche Nation ist das nächste Opfer? Am Ende versprüht die Dokumentation aber auch einen Funken Hoffnung: Die norwegische Justiz habe vorbildlich gehandelt, heißt es. Insgesamt habe das Land die Ereignisse gut aufgearbeitet. Und so endet die Doku mit dem Herz aus brennenden Kerzen von der Gedenkfeier in Oslo 2011.

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