Linda Zervakis im Interview

"Eigentlich haben alle gesagt: 'Spinnst du?"

09.09.2021 von SWYRL/Frank Rauscher

"Wie kann man nur die 'Tagesschau' verlassen!" - So in etwa, sagt Linda Zervakis im Interview, hörten sich die Reaktionen auf ihren überraschenden Wechsel von der ARD zu ProSieben an. Also Butter bei die Fische: Warum hat sie trotzdem den Absprung gewagt, und was hat sie nun vor?

Eigentlich verbietet es sich, eine Nachrichtenfrau in so einem Gespräch auf ihre Emotionen abzuklopfen. Aber bei Linda Zervakis muss die Ausnahme erlaubt sein: Nach erfolgreichen 19 Jahren beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat sich die langjährige "Tagesschau"-Moderatorin völlig überraschend im Frühjahr von der ARD verabschiedet und bei ProSieben angeheuert. Vermutlich, erklärt die 46-Jährige, hätte sie "die 'Tagesschau' bis zur Rente weitermachen können". Warum die Zeit nun trotzdem reif war, um den Absprung zu wagen, wie es ihr jetzt mit dieser Entscheidung geht und welche Pläne sie beim Privatsender hat, verrät Linda Zervakis, die, kein Geheimnis, auch ein "Faible für die Unterhaltung" hat, im Interview.

teleschau: Am 26. April moderierten Sie Ihre letzte "Tagesschau"-Sendung. Wie ging es Ihnen danach?

Linda Zervakis: Es fühlte sich surreal an. Aber zunächst hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Ich war vom Trubel abgelenkt, den meine Kolleg*innen hinter den Kulissen für mich veranstalteten: Susanne Daubner und Jens Riewa überraschten mich mit griechischer Musik und einer spontanen kleinen Party. So viele Menschen auf einen Haufen hatte ich bis dato seit Monaten nicht gesehen - ein denkwürdiger Abschied, auch wenn alles noch mit Maske und Abstand vonstattenging. Mir war absolut zum Heulen zumute, ich hatte nicht damit gerechnet.

teleschau: Es war aber auch ein großer Anlass: ein Abschied nach 19 Jahren beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk!

Zervakis: Ja, eine unfassbar lange Zeit - genau daran musste ich in diesen Stunden denken. 19 Jahre beim NDR, acht Jahre bei den Hauptnachrichten der "Tagesschau" ... - Das sind für mich mehr als nur Zahlen, es ist ein Lebensabschnitt. In dieser Zeit ist ja ganz viel mit mir passiert. Es war die Zeit, in der ich Mutter geworden bin und mich zu der Persönlichkeit entwickelt habe, die ich heute bin. Das ist jetzt erst mein zweiter großer Wechsel in meiner beruflichen Laufbahn.

teleschau: Sie waren in jungen Jahren Werbetexterin ...

Zervakis: Genau - und ich war auf einem ganz guten Weg, hatte mit 19 Jahren schon gut verdient, viel mehr als alle meine Freund*innen. Trotzdem wollte ich unbedingt in den Journalismus und ließ mich auf ein unbezahltes Praktikum bei einem Radiosender ein ... So fing alles an. Auch wenn mir damals alle einen Vogel gezeigt hatten, weiß ich heute, dass es genau der richtige Schritt war. Ich bin ein Bauchmensch - und ich hatte ein gutes Gefühl, genau wie ich es heute habe.

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"Die allermeisten zeigten großen Respekt vor meinem Schritt"

teleschau: Wie reagierte Ihr Umfeld diesmal?

Zervakis: Eigentlich haben alle gesagt: "Spinnst du?" (lacht) Es herrschte schon der Tenor vor: "Wie kann man nur die 'Tagesschau' verlassen!"

teleschau: Ihr Wechsel war auch ein großes Medienthema. Waren Sie davon überrascht?

Zervakis: Ja, damit hätte ich in der Form nicht gerechnet. Auch nicht mit den unfassbar vielen Wortmeldungen von Zuschauer*innen - ich war überwältigt. Natürlich weiß ich, dass die "Tagesschau" in Sachen Relevanz alles in den Schatten stellt, aber ich war erstaunt, wie wichtig den Zuschauer*innen ein vertrautes Gesicht, eine vertraute Stimme offensichtlich ist. Mich schrieben viele Leute an - die allermeisten zeigten großen Respekt vor meinem Schritt und dem Mut, so einen Weg zu gehen.

"Niemand kann mir garantieren, dass es funktioniert"

teleschau: Jetzt, mit etwas Abstand, können Sie es doch verraten: Warum sind Sie wirklich zu ProSieben gegangen?

Zervakis: Berechtigte Frage - denn von allein wäre ich da auch nicht draufgekommen (lacht). Es gab tatsächlich seitens ProSieben eine erste Idee für ein eigenes Format, das ich sehr interessant fand.

teleschau: Und dann?

Zervakis: Fing es in mir an zu arbeiten. Es kam dann eines zum anderen. Vermutlich hätte ich die "Tagesschau" bis zur Rente weitermachen können, sie ist ja das "Nachrichtenflaggschiff" in Deutschland, mit immer noch gigantischen Zuschauerzahlen. Aber ich war auch an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich noch mal etwas Neues wagen wollte. Also habe ich die Chance erkannt, mich noch mal anders aufzustellen und zu präsentieren. Dass ich neben der Nachrichtenkompetenz auch ein Faible für die Unterhaltung habe, ist ja kein Geheimnis.

teleschau: Man merkt Ihnen aber an, dass Ihnen die Entscheidung nicht so leicht gefallen ist ...

Zervakis: Ja, aber es war jetzt einfach auch mal Zeit für eine Veränderung, und das war die perfekte Gelegenheit für den Absprung. Niemand kann mir garantieren, dass es funktioniert. Falls nicht, dann werde ich wieder etwas Neues finden, das mich erfüllt.

"Der Druck dieses Jobs ist ja nicht zu unterschätzen"

teleschau: Wie haben Sie die letzten Monate verbracht?

Zervakis: Nach 19 Jahren Schichtdienst habe ich erst mal einen entspannteren Lebensrhythmus und die Zeit mit meiner Familie genossen. Ich habe diese Phase auch zum Nachdenken und Resümieren genutzt.

teleschau: Schauen Sie noch regelmäßig die "Tagesschau"?

Zervakis: Ja, fast immer - auch immer noch mit dem professionellen Blick. Davon kann man sich nicht ganz freimachen, wenn man weiß, wie es hinter den Kulissen zugeht. Ich war so lange Bestandteil dieser Sendung, fühle mich einfach verbunden. Der Druck dieses Jobs ist ja nicht zu unterschätzen. Wie oft ich schon davon geträumt habe, meine Notizen nicht beisammen zu haben, oder nachts - auch im Urlaub - aufgewacht bin und mich panisch gefragt habe: "Habe ich Schicht?", das glauben Sie nicht.

teleschau: Sind Sie froh, diesen großen Druck losgeworden zu sein?

Zervakis: Ich würde lügen, wenn ich Nein sagen würde.

"Unterhaltung mit Haltung"

teleschau: Das Journal "Zervakis & Opdenhövel. Live." startet am 13. September. Was haben Sie sich vorgenommen?

Zervakis: Wir machen ein Journal mit Beiträgen, längeren Reportagen, Aktionen und vertiefenden Gesprächen im Studio. "Unterhaltung mit Haltung", lautet die vielleicht griffigste Verschlagwortung, die mir einfällt. Wir wollen lebensnah Themen erzählen, aktuelle, bedeutsame Ereignisse. Aber auch gesellschaftspolitische oder unterhaltsame Themen, die für uns relevant sind und uns angehen, und diese anhand von Menschen mit ihren Geschichten und Schicksalen begreiflicher machen. Wir starten zwei Wochen vor der Wahl, natürlich wird auch die ein Thema sein - aber so, wie man es vielleicht nicht erwartet, typisch ProSieben eben.

teleschau: Dass der Sender in den vergangenen Monaten zunehmend um Relevanz bemüht war und das Programm journalistischer wurde, ist augenscheinlich ...

Zervakis: Ja, von Thilo Mischke bis zu "Joko & Klaas - 15 Minuten live" gab es Formate, die für Aufsehen sorgten und durchaus auch viele Zuschauer*innen fanden. Genau in dem Kontext sehen wir unsere Sendung - wenn man Linda Zervakis und Matthias Opdenhövel einkauft, setzt man damit ja ein Zeichen. Wir wollen journalistisch sein und relevant, vor allem wollen wir überraschen und viele Leute mitnehmen.

"Die Herausforderung ist nicht kleiner geworden - es wird immer schwieriger"

teleschau: Druck haben Sie allerdings auch jetzt wieder: Kurz vor der Wahl wird auf ein Format wie "Zervakis & Opdenhövel. Live." besonders genau geschaut werden. Gemeinsam mit SAT.1-Moderatorin Claudia von Brauchitsch moderieren Sie am 19. September auch das "Triell" mit den Kanzlerkandidaten. Jeder Satz, jeder verbale Fehltritt könnte da entscheidend sein ...

Zervakis: Nun ja, den Druck sollten eher unsere Kandidat*innen spüren, schließlich wollen die ja Kanzler*in werden und nicht ich. Also es ist nicht meine Show, sondern eine Gelegenheit für unsere Gäste, kurz vor der Wahl noch mal klar zu machen, wofür sie stehen und wohin sie unser Land bringen wollen. Das die sozialen Medien heute alles in real time kommentieren, ist nicht mehr wegzudenken und auch vollkommen okay. Man hat leider manchmal das Gefühl, viele Leute, auch viele Journalist*innen, warten nur auf den nächsten Fehler, auf den man sich stürzen kann, und dann geht's auf den öffentlichen Pranger. Mir ist bewusst, dass auch ich als TV-Journalistin davor nicht gefeit bin.

teleschau: Man muss mit dieser neuen Öffentlichkeit umgehen ...

Zervakis: Natürlich, das gehört inzwischen dazu. Wir bei ProSieben haben uns vorgenommen, wenn es denn mal sein muss, Fehler nicht kleinzureden oder totzuschweigen, sondern offen zu thematisieren - auch in unserer Sendung. Transparenz ist der beste Ansatz, denke ich.

teleschau: Ist der fragwürdige Wahlkampf, in dem es so gut wie nicht um Inhalte ging, auch diesem besonderen öffentlichen Druck geschuldet?

Zervakis: Ja, das spielt auf jeden Fall mit rein. Nur müssen wir und eben auch Politiker*innen lernen, mit neuen Medien umzugehen. Es hilft doch nicht, diese Entwicklung immer nur zu kritisieren. Diesmal ist die Zurückhaltung der drei Kandidat*innen aber vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass sie alle inhaltlich sehr nahe beieinanderliegen - es scheint fast so, als wollten sie vor lauter Angst, bei den Wähler*innen anzuecken, die wirklich brisanten Themen lieber umgehen.

teleschau: Woher rührt das?

Zervakis: Meine Theorie ist, dass die Politiker*innen heute schon wieder zu gut beraten werden - nach dem Motto: "Mach' dies nicht, mach' das nicht, mach' am besten gar nichts." Die Angst, einen Fehler zu begehen, wirkt schon fast lähmend, und das ist tragisch. Andererseits wird die Wahl wahnsinnig spannend - die drei liegen in den Umfragen nah beieinander.

teleschau: Wie gehen Sie als Journalistin mit dieser Art von Wahlkampf um?

Zervakis: Die Herausforderung ist nicht kleiner geworden - es wird immer schwieriger. Mehr denn je kommt es darauf an, sich vorzubereiten und gut zu fragen, um die Politiker*innen aus der Reserve zu locken. Vielleicht schaffen wir ja mit unserer Sendung die eine oder andere Überraschung.

"Bei der ARD geht es viel um Strukturen und Hierarchien"

teleschau: Nach Ihren ersten Wochen bei ProSieben: Wo liegen die wesentlichen Unterschiede zum öffentlich-rechtlichen Sender?

Zervakis: In den kürzeren Entscheidungswegen und der damit verbundenen Freiheit. Bei der ARD dauert es von einer Idee bis zur Umsetzung manchmal Monate, da geht es viel um Strukturen und Hierarchien. Bei ProSieben habe ich gelernt, dass man gehört wird, wenn man einen Vorschlag hat, und dass es auch mal nur Tage sein können, bis er umgesetzt wird. Daran gewöhne ich mich fraglos schnell.

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