Tocotronic im Interview

"Geschichten von Menschen, die am Nullpunkt der Existenz stehen"

27.01.2022 von SWYRL

Abgründe aufzeigen und Trost spenden: Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow und Schlagzeuger Arne Zank im Interview über das neue Album "Nie wieder Krieg", über Einsamkeit, Politik und die Aussicht auf Hoffnung.

Fast drei Jahrzehnte ist es her, dass sich Tocotronic aufmachten, den hiesigen Rock-Einheitsbrei aufzumischen. Auch heute noch wagt die in Hamburg gegründete und in Berlin ansässige Band Unerwartetes. "Nie wieder Krieg" heißt das 13. Studioalbum (erhältlich ab 28.1.) - mit der Friedensbewegung hat die Platte sonst aber wenig zu tun. Vielmehr geht es Dirk von Lowtztow und seinen drei Kollegen um einen anderen "Krieg" - jenen nämlich, der in unseren Psychen und Seelen stattfindet. Davon erzählen nicht nur die Geschichten des hymnischen Titelsongs und die bereits 2020 veröffentlichte Single "Hoffnung", die inmitten des Corona-Lockdowns Trost spendete. Auch Stücke wie das grandiose "Ich gehe unter" und das mitreißende Duett "Ich tauche auf" führen die intime Nähe fort, die schon den autobiografischen Vorgänger "Die Unendlichkeit" prägte. Nicht zuletzt ist "Nie wieder Krieg" abermals ein politisches Statement. Der furiose Postpunk-Kracher "Jugend ohne Gott gegen Faschismus" etwa könnte eindeutiger nicht betiteln, was die Band noch immer umtreibt: die Befreiung des Individuums von allerlei Zwängen. Wie sie auf "Nie wieder Krieg" das Politische und Persönliche in Beziehung setzten, erklären Sänger Dirk von Lowtzow und Schlagzeuger Arne Zank im Interview.

teleschau: "Nie wieder Krieg" als Albumtitel ist ja schon eine Ansage. Wie und warum wollten Tocotronic mit den Implikationen spielen, die der Slogan beinhaltet?

Dirk von Lowtzow: Ich hatte anfangs das Gefühl, es könnte eine Art natürliches Sequel zu "Kapitulation" (Tocotronic-Album von 2007, Anm. d. Red.) sein, das ergibt dann eine schöne Reihe. Die Idee ist ähnlich: Man nimmt einen Slogan aus seinem Kontext und füllt ihn mit etwas Persönlichem. Denn natürlich ist es kein Album über die Friedensbewegung, sondern ein sehr persönliches Album. Es erzählt Geschichten von Menschen, die am Nullpunkt der Existenz stehen, die unter innerer Zerrissenheit leiden. Menschen, die sich im Spiegel betrachten und sich selbst als Monster sehen. "Nie wieder Krieg" ist ein politischer Slogan von Käthe Kollwitz, zudem Titel eines sehr schönen Gedichts von Kurt Tucholsky. Diesen Slogan haben wir in die Sphäre des Psychologischen überführt.

teleschau: Und doch finden sich auf der Platte viele politische Momente.

von Lowtzow: Ja, diese Ebene verbirgt sich wiederum darunter - mit Slogans wie "Nie wieder Krieg", "Jugend ohne Gott gegen Faschismus" oder "Unter dem Pflaster der Sand". Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass dies auf Utopien und Freiheitsversprechen verweist. Damit spielt die Platte auch.

teleschau: Würden Sie sagen, dass es diese politische Seite bei Tocotronic von Anfang an gab?

von Lowtzow: Ich glaube, das gab es bei uns immer. Man denke an "Solidarität", "Sag alles ab", "Kapitulation" oder "Stürmt das Schloss". Vielleicht weniger auf den ersten Platten, die eher von unserem persönlichen Erleben und einer Retrospektive auf unsere Teenagerzeit geprägt waren. Die frühen Stücke beinhalteten noch eine Art Teenage Angst. Das ist uns gerade noch besonders nah, weil wir letzten Sommer Retrospektiv-Konzerte unserer ersten sechs Alben spielten.

Arne Zank: Das war eine Achterbahn der Gefühle! Ich dachte oft: Wie emotional anstrengend das damals war! Dahingehend empfand ich Erleichterung (lacht). Andererseits war es auch toll, weil wir nachvollziehen konnten, wie wir zu jener Zeit miteinander umgingen und wie man sich zur Welt verhielt.

von Lowtzow: Da drehte sich noch vieles um die eigene Wahrnehmung. Das änderte sich vielleicht ab "K.O.O.K." - nun stand auch die Beschäftigung mit linker und postmoderner Theorie im Vordergrund. Diese Theorien speisten sich dann in die Texte ein, es gab jede Menge Verweise. Damals kamen ja erstmals beispielsweise die deutschen Übersetzungen von Guy Debord heraus. Ab diesem Zeitpunkt spielte Politik in den Texten eine größere Rolle, es folgten Stücke wie "Aber hier leben, nein danke", in denen wir uns bewusst antinationalistisch verorteten.

Abonniere unseren Newsletter und wir versprechen, deine Mailadresse nur dafür zu verwenden.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

"Plötzlich gab es Streicher und Harfen und Glocken"

teleschau: Auch auf dem aktuellen Album beziehen Sie Stellung: Die erste Single "Jugend ohne Gott gegen Faschismus" erschien pünktlich vor der Bundestagswahl im Herbst. War das von vornherein geplant?

von Lowtzow: Das war natürlich ein Knaller! (lacht) Es ist bei der Produktion so einer Platte ja meist so: Man hat schon so zehn Stücke, aber eigentlich braucht man noch einen richtigen Knaller. Dann wurde das Album wegen Corona verschoben und wir sagten uns: Lasst uns die erste Single im September veröffentlichen, lasst uns dieses Lied nehmen und das einen Tag vor der Bundestagswahl machen.

teleschau: Inspirierte Sie auch der politische Aktivismus der jungen Generation zu dem Song?

von Lowtzow: Zu meinen Inspirationsquellen gehörte ein Film mit dem doppeldeutigen Titel "Umsonst", der mir sehr gefiel. Er handelt von zwei eigensinnigen jungen Frauen, die durch Berlin driften. Die Stadt als Beute quasi, es geht etwa um Konsumkritik und die Folgen der Gentrifizierung. Von dieser Atmosphäre habe ich mich inspirieren lassen und bin dann selbst herumgelaufen. Und dann stößt man auf diese bisweilen sehr jungen Leute, 17, 18 Jahre, die die Welt um sich herum bespielen. Ich finde die toll! Es sollte eine Hymne werden an die jungen Menschen, die so abhängen und rumbummeln.

teleschau: Viele Songs der Platte vermitteln auf das erste Hören einen ziemlich poppigen Eindruck. Wie viel Absicht steckte dahinter?

Arne Zank: Man hört natürlich gerne, dass die Stücke auch als Popsongs funktionieren. Ich erinnere mich, dass ich das in der heißen Phase der Produktion auch sehr erfrischend fand. Es gab den poppigen Einschlag - und gleichzeitig den Kontrast zu Begriffen wie "Krieg" und "Faschismus", mit denen man ja nicht leichtfertig umgeht. Der erste Eindruck ist eher luftig, es gibt diesen unmittelbaren Gestus, diese Skizzenhafte, das wir im Laufe der Arbeit versucht haben zu bewahren. Aber das Album hat auch eine gewisse Schwere.

von Lowtzow: Wir mochten das immer; wir waren immer Fans von arrangierter Popmusik, von diesen beatelesken, Psychedelic-haften Sachen, bei denen kleinteilig gearbeitet wurde. Auch, wenn man das auf den frühen Alben nicht so hört.

teleschau: War die musikalische Herangehensweise diesmal eine andere?

von Lowtzow: Corona hat uns ein wenig Zeit geschenkt, das war eine positive Seite daran. Denn oft hat man ja Zeitslots für Studios, auch unser Produzent Moses Schneider arbeitet natürlich mit anderen Bands. Man hat also nie unbegrenzt Zeit, es fehlt einem immer ein bisschen. Das war bei diesem Album anders: Vieles fiel aus und brach weg - und wir hatten viel Zeit, uns mit den Stücken auseinanderzusetzen. Zudem kennen wir seit der letzten Platte Friedrich Paravicini, einen fantastischen Arrangeur aus Hamburg. Er ist der deutsche Ennio Morricone (lacht). Weil auch er Zeit hatte, beschäftigte er sich mit ein paar Stücken - und fügte in seinem, das darf ich sagen: spinnerten Kosmos Dinge hinzu, die für uns echte Geschenke waren. Plötzlich gab es Streicher und Harfen und Glocken.

teleschau: Erstmals nach Jahren spielten Sie die Songs diesmal auch "live" mit Gesang ein ...

von Lowtzow: Ja, insgesamt vier Songs sind auf der Platte, die wir im Studio komplett live eingespielt haben. Das gibt so eine besondere Dynamik.

Zank: Das ist ja auch das Spezialgebiet von Moses Schneider, weshalb diese Idee immer im Raum stand. Andererseits ist das auf Albumlänge schon gewagt. Diesmal war es aber übersichtlicher - und ich fand das wahnsinnig toll.

"Ich lebe ja ganz frei von Social-Media"

teleschau: Ist es eigentlich gewollt, wenn manches Stück auf dem neuen Album an ältere Tocotronic-Stücke oder frühere Phasen der Band erinnert - beispielsweise "Nachtflug"?

von Lowtzow: Bewusst machen wir das eigentlich nicht, weil wir das ein wenig selbstgerecht finden. Aber bei "Nachtflug" etwa dachte ich tatsächlich, dass man mal wieder ein Stück wie "Nach Bahrenfeld im Bus" machen könnte, ein wenig psychedelisch und dreampopartig. Und dann stellte ich mir vor, wie da einer vielleicht betrunken im Nachtbus sitzt und sozusagen durch die Nacht fliegt (lacht).

teleschau: Der Song "Hoffnung" wurde schon zu Beginn der Coronakrise veröffentlicht - weil er perfekt zur Pandemiesituation zu passen schien. Aber worum drehte er sich eigentlich ursprünglich?

von Lowtzow: Früher hörte ich wahnsinnig viel Folk- und Bluessachen, vor allem Townes van Zandt. Ich wollte gern ein Stück schreiben, das so ein bluesiges Gefühl besitzt, aber in Moll. Die klassischen Blues-Themen Einsamkeit, Verlorenheit und Vereinzelung tauchen auch auf - allerdings gebaut um die eigentlich autothematischen Begriffe "Lied", "Stück", "Lyrics", "Music", "Song", "Ton" und "Klang". Die Idee war, diese beiden Ebenen zu verbinden.

teleschau: Wie kam es dann aber anders?

von Lowtzow: Als der Rough-Mix des Songs fertig war, schon mit Streichern versehen, hörte ich ihn mir auf Kopfhörern an. Es war gerade am Anfang der Pandemie, ich saß auf dem Balkon, rauchte eine Zigarette und sah die menschenleere Stadt. Da war niemand mehr. Und ich dachte: Das ist genau das Gefühl, das gerade herrscht. Deshalb entschlossen wir uns, das Stück als Work-in-progress herauszubringen. Es fing die damalige Stimmung sehr gut ein. Dazu gab es das Video mit den leeren Plätzen, eingefangen von den touristischen Kameras in den Städten - fast wie eine situationistische Collage.

teleschau: Gab es Sorgen, dass der Song nur als ein weiterer "Pandemie-Song" zu jener Zeit angesehen werden könnte?

Arne Zank: Wir hatten da ein ganz reines Gewissen. Das kann man schon vertreten. Klar merkten wir, dass zu der Zeit so einiges an Online-Aktivitäten aufploppte; es gab ja auch viele Songs zum Thema. Aber da wir unseren Song nicht extra zur Pandemie geschrieben hatten, konnte man das machen, da waren wir uns einig. Zumal man ja nicht oft Sachen aus dem Prozess rausgibt - wir sind da nicht die Spontansten (lacht). In dem Fall fanden wir es Bombe und wollten das anderen auch zeigen.

von Lowtzow: Ich lebe ja ganz frei von Social-Media - daher bekam ich das alles sowieso nicht mit (lacht).

teleschau: Apropos Öffentlichkeit: Bisweilen sieht man Tocotronic zu Gast in Shows wie "Inas Nacht", wo Sie gemeinsam mit Ina Müller kürzlich live das Duett "Ich tauche auf" performten. Vermissen Sie solche Auftritte im Fernsehen?

von Lowtzow: Es gibt ja auch kein Musikfernsehen mehr. Zu Hochzeiten gab es MTV, VIVA und VIVA zwei, da waren wir ab und zu in irgendwelchen Sendungen zu Gast. Das ist ja alles vorbei. Zwischendurch gab es dann noch Shows wie "Top of the Pops". Und für "Wetten, dass...?" waren und sind wir zu klein - da haben wir auf den Anruf gewartet, schließlich sind wir doch Kinder der 80er- und 90er (lacht). Nein, im Ernst: Heutzutage haben wir ein paar Formate, bei denen wir gern zu Gast sind: "ZDF Magazin Royale", "Late Night Berlin", "Aspekte" und eben "Inas Nacht", wo es wirklich sehr nett ist. Ina Müller ist wirklich totaler Musikfan und mag unsere Musik sehr gern.

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL