"Panorama 3"-Beitrag über "kaputte Streitkultur"

"Klare Positionen vermeide ich": Wie Hass und Hetze die politische Debattenkultur gefährden

01.09.2021 von SWYRL/Frank Rauscher

Wie kann man noch Politik machen, wenn die Dialogfähigkeit verloren geht? - Ein TV-Beitrag über die "kaputte Streitkultur" blickt auf eine brandgefährliche Entwicklung.

Überall ist von der sich rasant verschärfenden Spaltung der Gesellschaft die Rede. Es dürfte die große gesellschaftspolitische Herausforderung der kommenden Jahre sein, die fatale Entwicklung umzukehren. Eine Frage, die dabei auch zu klären ist, ist die nach dem verloren gegangen Respekt: Nicht nur, aber gerade auch in den sozialen Medien, hat sich vielfach ein Umgangston durchgesetzt, der jede konstruktive Auseinandersetzung, jeden seriösen Dialog unmöglich macht. Offenbar ist der Mindestkonsens, die Basis an Gepflogenheiten, welche die Begegnung unter zivilisierten Menschen überhaupt erst ermöglichen, von Teilen der Gesellschaft aufgekündigt worden.

Ein aktueller Beitrag aus dem ARD-Politikmagazin "Panorama 3", der am Dienstagabend im NDR-Dritten ausgestrahlt wurde und nun in der Mediathek zu sehen ist, macht eindrucksvoll deutlich, dass vor allem Politikerinnen und Politiker zunehmend mit einem Sittenverfall zu kämpfen haben, der jeder Beschreibung spottet. "Gerade während der Pandemie wurden viele von ihnen zur Zielscheibe aufgestauter Wut", heißt es in dem Film, der jeden verstören muss, der es mit der Vernunft und der Demokratie hält.

Es ist natürlich keine Neuigkeit: Der Ton ist rauer geworden. Aber was heißt das? - Es wird heute längst nicht mehr nur geschimpft und geklagt, sondern allzu oft reflexartig auch ohne Maß geschrien, beleidigt und immer wieder auch gelogen, dass sich die Balken biegen. - Aggressiv und mit einem Wortschatz, mit dem sich vor zehn Jahren noch niemand zu einer öffentlichen Äußerung aufgeschwungen hätte, wird mitunter sogar in Fernsehkameras geblökt, dass einem angst und bange wird. "Wahlkampf 2021 - Politiker:innen zwischen Hass und Hetze", lautet der programmatische Titel des "Panorama 3"-Beitrags, der einige von denen begleitet, die zur Zielscheibe einer aufgeheizten Debatte wurden.

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"Ich konnte nicht einatmen, mein ganzer Körper rebellierte"

Wie schlimm es steht, erfährt man unter anderem von Karoline Preisler, die für die FDP in Mecklenburg-Vorpommern aktiv ist und nach ihrer Corona-Erkrankung eine neue Dimension von Ablehnung und Hass erlebte. Die Kamera ist live dabei: Auf sogenannten Querdenker-Demonstrationen macht sie auf die Gefahren der Krankheit aufmerksam, hält ein Schild mit der Aufschrift "Ich hatte COVID 19 und mache mir Sorgen um euch" in Händen. Prompt wird sie von einer bunt gekleideten älteren Frau mit Tretroller angebrüllt: "Unsere Kinder werden getötet, und Sie verteidigen einen Verbrecherstaat."

In der "Panorama 3"-Reportage rekapituliert Preisler noch einmal die schwere Zeit im Krankenhaus, die sie damals auch in einem Videotagebuch dokumentierte. "Atemnot raubt einem den Verstand. Es ging mir sehr schlecht", erinnert sie sich. "Ich konnte nicht einatmen, mein ganzer Körper rebellierte, mein Puls schoss nach oben. Ich wollte atmen, atmete ein, holte Luft, aber es kam nichts an." Schon im Krankenhaus und unmittelbar danach, in einer Zeit, in der sie sich besonders verletzlich gefühlt habe, sei es mit den Anfeindungen so richtig losgegangen.

Dass sie es sich dennoch zur Aufgabe gemacht hat, auch mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die ihr kritisch oder sogar feindselig gegenüberstehen, kann man der FDP-Politikerin aus Mecklenburg-Vorpommern eigentlich hoch anrechnen. Doch ihr Engagement beschert ihr Social-Media-Kommentare, die sich etwa so lesen: "Ich wünsche dir einen Überfall, Einbruch mit Waffengewalt". Oder so: "So was gehört vors Erschießungskommando." Oder so: "Warum erzählen Sie diese Lügen im Fernsehen? Sie sollten eingesperrt werden." - Eine Reihe aus Hass und Unverfrorenheit.

Jedenfalls weiß Preisler, wovon sie spricht, wenn sie nun vor der NDR-Kamera über die Spaltung der Gesellschaft doziert. Sie habe sogar zu hören bekommen, sie sei nur "eine bezahlte Schauspielerin von Angela Merkel", sagt sie. Und einer habe geschrieben, das Virus sei "nicht wählerisch und nimmt sogar den FDP-Politiker". Da habe sie "richtig geheult", erinnert sie sich. Denn sie habe sich gedacht, "da schreibt sich einer was von der Seele - und morgen geht jemand los und schlägt meinen Mann nieder, im Bundestag." Ihr Mann ist Hagen Reinhold, der sich für die FDP erneut um ein Mandat bewirbt. Auch ihn treffen im Wahlkampf Wut und Hass. Beide seien scharfen Gegenwind durchaus gewohnt, aber die Heftigkeit habe ein nicht für möglich gehaltenes Maß erreicht.

Doch beide sagen, dass sie trotz allem weitermachen wollen. Reinhold im Parlament, Preisler auf der Straße. "Ich glaube, wir müssen uns um jeden einzelnen Menschen in einer Demokratie bemühen", erklärt sie in bewundernswerter Ruhe. "Denn die Funktion meines Gesprächspartners ist die wichtigste im ganzen Land: Er nimmt an Wahlen und Abstimmungen teil und entscheidet darüber, wie das Parlament besetzt wird."

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Lauterbach: "Die Pöbelei macht mir nicht mehr so viel aus"

Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff versucht sich im Film an einer groben Analyse. Die Angst, befindet sie, habe allenthalben zugenommen - ein wesentlicher Faktor für den Niedergang der Streitkultur. Einer, der das immer wieder aus nächster Nähe erfährt, ist SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, den "Panorama 3" ebenfalls beim Wahlkampf begleitet. Lauterbach, eine der prominentesten Politiker-Stimmen in Zeiten der Pandemie, ist immer wieder Zielscheibe von Beleidigungen.

"Die Pöbelei macht mir nicht mehr so viel aus", sagt er nun nüchtern. Doch es habe schon heftigere Situationen gegeben, die ihm klargemacht hätten, dass er vorsichtig sein müsse. "Aber wir müssen da durch, ich bin ja nicht der Einzige, der bedroht wird, der Personenschutz hat, der im Kreuzfeuer steht."

Der SPD-Mann ist sich bewusst, dass es Lokalpolitiker noch weitaus schwerer haben. Immerhin werde er "verhältnismäßig gut geschützt". Der klassische Kommunalpolitiker gehe hingegen "voll ins Risiko". In Hamburg treffen die Filmemacher auf junge CDU-Politiker, die diese Einschätzung bestätigen. Die Rede ist von Anfeindungen und auch davon, dass mancher sich inzwischen bei bestimmten Themen lieber zurückhält. Er habe "schon einige politische Talente aufhören sehen", sagt Benjamin Welling von der JU Hamburg.

Politiker bestätigen: Aggressive verbale Angriffe sind Realität

Mit der 24-jährigen Karoline Otte von Bündnis 90/Die Grünen aus Niedersachsen, die das erste Mal für den Bundestag kandidiert, gehen die Filmemacher auf eine Runde Haustürwahlkampf. Ein Mann, der ihr bereitwillig öffnet, gibt dabei zu Protokoll, dass es im Alltag, schon an der Kasse im Supermarkt anfange, dass sich die Menschen nicht mehr verstünden: "Die reden nicht mehr, die schnauzen nur noch rum, die sagen: Ich habe Recht, ich bin wichtig, und alles andere ist sekundär."

Auch Karoline Otte muss sich auf Social Media Beleidigungen und Demütigungen anhören. Die im Film vorgestellten Kostproben reichen von: "Wer ist der Metzger, der ihre Haare schneidet?" bis "Dich unkritischen Dummkopf werden wir bekämpfen." Trotzdem geht auch sie raus und macht weiter Wahlkampf.

In einer von "Panorama 3" durchgeführte Umfrage unter allen Politikerinnen und Politikern geben jedoch etliche an, dass sie sehr wohl auf die Aggressivität reagieren - vor allem in den Sozialen Medien. Von einem FDP-Politiker ist zu vernehmen, er "wähle bewusst eine zurückhaltendere Formulierung, was eigentliche Aussagen schwächt - aus Sorge vor einer etwaigen Fehlinterpretation". Jemand aus den Reihen der CDU bekennt gar: "Klare Positionen vermeide ich."

70 Prozent derjenigen, die sich an der Umfrage beteiligten, bestätigen, regelmäßig aggressive, verbale Angriffe zu erleben. So wie Tareq Alaows (Bündnis 90/Die Grünen). Der 32-Jährige ist vor sechs Jahren aus Syrien geflohen, auch er kandidierte für den Bundestag. Doch dann zog er seine Kandidatur zurück. "Immer wenn ich irgendwas mache, ein Presseinterview, kommt eine Welle an Hass", berichtet er. Während seiner Kandidatur habe es "gar nicht mehr aufgehört".

"Der erste Sargnagel der Demokratie"

Was also kann man tun? Weitermachen, könnte das Fazit dieses Films lauten. Dagegenhalten, mit Sachlichkeit und Argumenten. Dort hingehen, wo es wehtut. Karoline Preisler, die tapfer unter Querdenkern im Regen steht, sagt: Die Menschen hätten es "verlernt, demokratische Handwerkszeuge in Anspruch zu nehmen". Sie bleibe beharrlich: "Ich wünsche mir, dass andere demokratische Parteien ebenfalls ihre Vertreter hierher schicken."

Die Sozialwissenschaftlerin und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff rät ebenfalls zum Dialog, doch sie warnt auch: "Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht mehr bereit sind, sich über ihr Gemeinwesen auseinanderzusetzen, über das, was man als Politik haben möchte, dann ist das sozusagen der erste Sargnagel der Demokratie."

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