ARD-Reporterin Stefanie Groth im Interview

"Menschen sehenden Auges ertrinken zu lassen, ist keine Lösung, sondern ein Verbrechen"

17.11.2021 von SWYRL/Frank Rauscher

Nein, versichert Filmemacherin Stefanie Groth, sie erzähle in ihrer Reportage "Mission im Mittelmeer - Jedes Menschenleben zählt" mitnichten eine Heldenstory, sondern "eine Geschichte über Menschen, die ihrem Gewissen und eigenen Anspruch folgen".

Das Thema ist aus dem Fokus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Und doch hat sich nichts daran geändert, dass sich im Mittelmeer katastrophale Szenen abspielen. Alleine seit 2019 sind nachweislich fast 5.000 Menschen beim Versuch, nach Europa zu kommen, ertrunken. Das Drama ist bekannt, die Fakten liegen auf der Hand, und "niemand kann sagen, man habe davon nichts gewusst", konstatiert Filmemacherin Stefanie Groth, deren Reportage "Mission im Mittelmeer - Jedes Menschenleben zählt" Anfang Dezember in der ARD-Mediathek und in den Dritten von rbb und SWR zu sehen ist. Der Titel, den die ARD-Journalistin für ihren Film über einen Hilfseinsatz gefunden hat, könnte unmissverständlicher nicht sein. Hier geht es um viel: um Werte, um die "große" Politik und um Menschenleben. Stefanie Groth war an Bord der "Nadir" und begleitete im Rahmen des Filmprojekts die vierte Mission 2021 der Organisation "Resqship". Die Eindrücke werden sie nie mehr loslassen: Insgesamt sei in ihrer Zeit an Bord 100 Menschen in Seenot geholfen werden, berichtet sie im Interview, in dem sie auch mit Blick auf das Drama in der belarussisch-polnischen Grenzregion Klartext spricht: "Menschenrechte und Solidarität sind Werte, die in der EU seitens der Politik gerne beschworen, an den EU Außengrenzen aber mit Füßen getreten werden."

teleschau: Ihr Film handelt von den Brüdern Raphael, Gerson und Benjamin Reschke - Aktivisten, die aus Bad Kreuznach kommen, sich "Sea Punks" nennen und das Ziel haben, auf dem Mittelmeer Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählen?

Stefanie Groth: Es ist eine Geschichte über Menschen, die ihrem Gewissen und eigenen Anspruch folgen. Von den Reschke-Brüdern und ihrer Idee habe ich das erste Mal im Dezember 2019 gehört: "Drei Brüder kaufen altes Marineschiff und fahren damit auf Rettungsmission ins Mittelmeer", war die Schlagzeile, die ich irgendwo im Internet gelesen hatte. Mein erster Gedanke war: "Was machen die?! Sind die verrückt?"

teleschau: Und dann mussten Sie sie kennenlernen?

Stefanie Groth: Ja. Ich war neugierig und wollte mir das anschauen. Im Februar 2020 habe ich die Reschkes und ihre Freunde das erste Mal getroffen. Sie hatten in Hamburg Finkenwerder gerade mit dem Umbau des Schiffs begonnen. Ihr Enthusiasmus war nicht zu bremsen. Das hat mich beeindruckt, und journalistisch wollte ich mich schon länger den Themen "Flucht", "Migration" und "Zivile Seenotrettung" zuwenden. Ich wollte über den Weg der "Sea Punks" berichten und hatte das Glück, mit dem "ARD-Mittagsmagazin" eine Redaktion hinter mir zu haben, die das Filmprojekt vom ersten Moment an unterstützt hat. Kurz darauf ist auch der SWR mit eingestiegen.

teleschau: Wie ging es weiter?

Stefanie Groth: Von da an habe ich die "Sea Punks" bei ihrem Vorhaben, ein Schiff ins Mittelmeer zu bringen, begleitet. Es ist eine Geschichte, die weit über die drei Reschke-Brüder und ihre Anfangsidee hinausgeht. Eine Geschichte über Menschen, die nicht länger tatenlos von zu Hause dabei zuschauen, wie Menschen im Mittelmeer bei ihrem Fluchtversuch ertrinken. Stattdessen handeln sie und haben als "Sea Punks" ein Netzwerk geschaffen, in dem jede und jeder mit anpacken und helfen kann. Ihr Motto ist: "Einfach machen!", und genau das tun sie. Egal ob Handwerker, Medienschaffende, Pädagogen, Musiker, Psychologen, Juristen - alle eint die Überzeugung, dass jede und jeder dazu beitragen kann, dass die desolate Situation im Mittelmeer nicht so bleibt wie sie ist. Dafür muss nicht jeder selbst dorthin fahren und auf Missionen Menschenleben retten. Es gibt andere Wege, zu unterstützen und zu helfen. Das zeigen die "Sea Punks", und das zeigt der Film.

teleschau: Ist Ihr Film eine Heldengeschichte?

Stefanie Groth: Nein, im Gegenteil! Es ist eine Geschichte über ganz normale Menschen, die nichts Heldenhaftes tun. Das Narrativ von Helden und Heldinnen ist eines, nach dem wir Menschen uns sehnen in Situationen, in denen wir uns verständlicherweise erst mal ohnmächtig fühlen, angesichts von globaler Ungerechtigkeit und gesellschaftspolitischen Missständen. Das ist nachvollziehbar, macht es einem aber auch recht einfach, sich darauf auszuruhen. Es ist immer leichter, darauf zu hoffen, dass jemand anderes etwas tut, anstatt sich selbst zu fragen: "Was kann ich beitragen?" Dieser Film erzählt von Leuten, die einfach nur handeln. Es sind Leute, die der Prämisse folgen, dass ein Mensch einen anderen Menschen nicht ertrinken lässt - das sollte eine Selbstverständlichkeit sein und nichts Heldenhaftes. Sobald wir anfangen, in etwas offensichtlich Menschlichem eine Heldentat zu sehen, haben wir als Gesellschaft ein Problem.

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"Den Menschen droht Folter, Vergewaltigung, Sklaverei"

teleschau: Raphael Reschke wurde von der deutschen Hilfsorganisation "Resqship" angeheuert und war an Bord der "Nadir" auch direkt an Seenotrettungseinsätzen vor Malta beteiligt ...

Stefanie Groth: Ja, er und die Crew waren vier Tage im Dauereinsatz. Sie sind bis an ihre Grenzen gegangen. Obwohl sie für eine Beobachtungsmission losgezogen sind, mussten sie retten und konnten am Ende 100 Menschen in Seenot helfen. Denn auf dem Meer gilt das gleiche Prinzip wie auf der Straße: Wer auf einen Notfall trifft, der ist verpflichtet, zu helfen. Das heißt, dass die Crew trotz begrenzter Möglichkeiten mit ihrem Segelschiff Ersthilfe geleistet hat. Oft haben die Menschen in den Holzbooten keine Rettungswesten, sind stark dehydriert, dementsprechend geschwächt, und wenn sie länger unterwegs sind, sind sie nicht selten verletzt und benötigen medizinische Versorgung. Immer häufiger sind auch Frauen und Kleinkinder in den Holzbooten zu finden, die sich auf die gefährliche Fluchtroute begeben. So auch bei dieser Mission der "Nadir". Sie fanden ein Holzboot mit 22 Menschen, darunter drei Frauen und neun Kinder, das jüngste gerade zwei Monate alt. Der Säugling war stark dehydriert, hatte lange nichts getrunken, die Mutter konnte nicht stillen. Eine lebensbedrohliche Situation für das Kind.

teleschau: Kam keine offizielle Hilfe?

Stefanie Groth: Obwohl die Crew die italienischen und maltesischen Behörden, die zuständig gewesen wären, darüber informiert hatte, schickten diese über zwölf Stunden lang keine Hilfe! Die Crew war auf sich allein gestellt und hat um die Gesundheit aller, insbesondere des Säuglings, bangen müssen. Zwei Tage später hat die Crew sich bei fragwürdigen Manövern, die von der italienischen Küstenwache angeordnet wurden, sogar selbst in Gefahr gebracht und die eigene Sicherheit riskiert, um den medizinischen Notfällen unter den Geretteten zu helfen. Das war für alle belastend, psychisch wie physisch. Vier Tage Dauereinsatz steckt niemand so einfach weg. Obwohl alle Crewmitglieder als Freiwillige an Bord sind, die ihre Freizeit dazu nutzen, bei diesen Einsätzen mitzufahren, haben sie dieser enormen Belastung mit bemerkenswerter Stärke standgehalten; stets fokussiert und mit viel Ruhe und Hingabe gehandelt.

teleschau: Obwohl ihr Schiff eigentlich nicht auf Seenotrettungsmission im Mittelmeer kreuzt ...

Stefanie Groth: Die "Nadir" ist ein Segelschiff, kein Rettungsschiff! Sie ist schlicht zu klein und nicht dafür ausgestattet Seenotfälle adäquat zu versorgen. "Resqship" ist im Mittelmeer vor Ort, um Aufklärungsmissionen zu fahren, Menschenrechtsbeobachtungen durchzuführen und das Geschehen zu dokumentieren. So kommt es im zentralen Mittelmeer wiederholt zu illegalen Pushbacks durch die sogenannte libysche Küstenwache, die von der EU durch Finanzierung und Ausbildung unterstützt wird. Bei diesen Pushbacks werden Menschen in Seenot aus internationalen Gewässern mit europäischer Zugehörigkeit und Verantwortung, namentlich Malta, aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht. Das ist ein Völkerrechtsbruch und verstößt auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Wer aus einem Land flieht, in dem seine Menschenrechte gefährdet sind, der darf nicht gegen seinen Willen dorthin zurückgebracht werden, sondern hat Anrecht auf ein Asylverfahren. Libyen ist ein Bürgerkriegsland. Den Menschen droht dort Folter, Vergewaltigung, Sklaverei.

"Was dort geschieht ist eine Tragödie - aber keine, die von ungefähr kommt"

teleschau: Aus welchem Holz sind diese Menschen geschnitzt, die sich auf solche Missionen begeben?

Stefanie Groth: Ich kann nur für die sprechen, die ich kennenlernen durfte. Ich habe sechs Menschen erlebt, die im Charakter unterschiedlicher nicht sein könnten, die alle in verschiedenen Phasen ihres Lebens stecken und unterschiedliche Dinge vom Leben wollen. Egal, ob Raphael Reschke, der vor Energie sprüht, nicht lang fackelt, sondern immer anpackt und vorangeht, der am liebsten fünf Projekte zeitgleich stemmt und so wirkt, als könnte ihn nichts schocken, der das Schreien der Kinder auf dem Flüchtlingsboot aber kaum ertragen konnte, weil er selbst drei Kinder hat; oder die junge Studentin Anna, die sehr bedacht und nachdenklich ist, aber wenn nötig wie eine Löwin kämpft und sich einsetzt; oder Francesco, der Italiener an Bord, der wahnsinnig still ist, aus dem es aber herausbricht, sobald er die italienischen Behörden am anderen Ende der Funkleitung an ihre Verantwortung erinnern muss.

teleschau: Gibt es etwas, das diese Leute gemein haben?

Stefanie Groth: Was alle eint, ist der unbedingte Wille zu helfen, anstatt mit dem Wissen um die Situation im Mittelmeer zu Hause zu sitzen und nichts zu tun. Sie fühlen sich verpflichtet, zu handeln, wo die politisch verantwortlichen Institutionen der EU derzeit nicht handeln. Es geht ihnen darum, akute Nothilfe zu leisten. Personen, die um ihre eigenen Privilegien wissen und daraus die Verantwortung ableiten, etwas zu ändern. Alle sind als Freiwillige an Bord gegangen, und haben sich, ihre Zeit und ihr Wissen als Rettungssanitäter, Schiffsmechaniker, Ingenieur oder Medizinstudentin eingebracht.

teleschau: Ist es auch eine Frage von Mut?

Stefanie Groth: Ich denke, ja. Die wenigsten hatten zuvor Einsatzerfahrung. Alle sechs sind auch ein persönliches Risiko eingegangen, denn klar ist, dass man das, was man auf dem zentralen Mittelmeer erlebt, nicht einfach so wegsteckt. Aber ihr Bedürfnis, zu helfen, überwiegt und ist größer als die Sorge, was einen bei so einer Mission erwarten kann, von einem Zusammentreffen mit der libyschen Küstenwache hin zu der Tatsache, dass man damit rechnen muss, zu spät zu einem Notfall zu kommen und nur noch Leichen aus dem Wasser zu ziehen.

teleschau: Auch wenn das Thema aus dem Fokus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden ist, hat sich nichts daran geändert, dass sich im Mittelmeer katastrophale Szenen abspielen. Alleine seit 2019 sind fast 5.000 Menschen beim Versuch, nach Europa zu kommen, ertrunken ...

Stefanie Groth: Die knapp 5.000 Menschen sind ja auch nur die, von denen man weiß. Die Dunkelziffer wird deutlich darüber liegen. Erschreckend ist doch, dass uns das alles bekannt ist: die Toten, die Menschenrechtsbrüche an der EU Außengrenze, all das ist gut dokumentiert. Niemand kann sagen, man habe davon nichts gewusst.

teleschau: Eine neue Entwicklung ist all das sicher nicht ...

Stefanie Groth: 2013 sind 368 Menschen nur wenige hundert Meter vor der Küste Lampedusas ertrunken. Der Fall löste in der EU damals große Betroffenheit aus. Genau ein Jahr zuvor ist die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Eine Wende in der Flüchtlingspolitik, die solche Tragödien wie die 2013 vor Lampedusa, und die zahlreichen anderen, die seitdem gefolgt sind, verhindert, ist aber ausgeblieben. Stattdessen erleben wir seit Jahren eine EU, die sich abschottet. Die die zivilen Organisationen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, zu helfen, nachdem die EU ihr staatliches Seenotrettungsprogramm eingestellt hat, kriminalisiert und sie in ihrem humanistischen Engagement behindert, weil es politisch nicht gewollt ist. Menschenrechte und Solidarität sind Werte, die in der EU seitens der Politik gerne beschworen, an den EU Außengrenzen aber mit Füßen getreten werden. Um das zu erkennen, muss man auch nicht ins Mittelmeer blicken. Man kann auch nach Belarus, die bosnisch-kroatische Grenze, oder in die Ägäis schauen. Die EU verrät Werte an ihren Außengrenzen, die sie zugleich für sich beansprucht. Das zentrale Mittelmeer ist ein Ort, wo das seit Jahren besonders deutlich wird. Was dort geschieht, ist eine Tragödie - aber keine, die von ungefähr kommt.

teleschau: Ist das die zentrale Botschaft Ihres Films?

Stefanie Groth: Der Film ist eine Einladung, sich das bewusst zu machen. Welche Schlüsse man daraus zieht, bleibt jedem selbst überlassen. Zugleich zeigt der Film durch die Protagonisten, dass man nicht ohnmächtig sein muss. Betroffenheit verändert nichts. Die "Sea Punks" zeigen, dass jeder die Wahl hat, hinzuschauen, und die Möglichkeit, aus den eigenen Privilegien heraus zu handeln, im Kleinen wie im Großen dazu beizutragen, dass sich etwas ändert.

teleschau: Wie gehen die Crewmitglieder mit Anfeindungen und Hass um?

Stefanie Groth: Dass bei dem Thema so viel Hass und Anfeindung vorherrschend sind, kann ich aus meinen Recherchen nicht bestätigen. Im Gegenteil habe ich erlebt, wie hunderte Freiwillige geholfen haben, ein Schiff, die "Rise Above", entgegen aller Widerstände, vor allem auch aus der Politik, umzubauen und in den Einsatz zu bringen. Da gab es viel Zuspruch und Engagement. Die zivile Seenotrettung an sich mit all den Organisationen, und ihren Unterstützern ist ja ein Beleg dafür, dass es Menschen gibt, die nicht damit einverstanden sind, was im Mittelmeer geschieht, die nicht wegschauen. Daraus wird dann auch die Kraft gezogen, weiterzumachen. Und aus der Tatsache, dass Wegschauen und Nichtstun keine Option für diese Menschen ist. Hass und Anfeindungen - das wird es hier und da geben, aber man sollte von Echokammer-Effekten in sozialen Netzwerken nicht darauf schließen, dass das die Allgemeinheit ist, die da spricht. Es gibt einige wenige, die sind hasserfüllt und besonders laut. Ich denke, was es in jedem Fall bei vielen Menschen gibt, sind offene Fragen, auch Sorgen und diffuse Ängste. "Seenotrettung", "Migration" und "Flucht" - das sind komplexe Themen, bei denen es keine einfachen Antworten gibt.

"Das sind alles Menschen!"

teleschau: Haben Sie beim Dreh ein Gefühl dafür bekommen, mit welchen konkreten Hoffnungen die Geflüchteten auf den Booten Richtung Europa unterwegs sind?

Stefanie Groth: Ich nehme den Eindruck mit, dass die Menschen die Hoffnung antreibt, ein Leben in Sicherheit zu führen und für sich und ihre Familie eine Zukunft zu haben. Etwas also, das den allermeisten von uns, in Deutschland etwa und Westeuropa, von Geburt an gegeben ist, ohne dass wir dafür etwas tun mussten. Andere riskieren dafür ihr Leben. Wir können aber nicht von "dem Flüchtling" sprechen. Das sind alles Menschen! Jeder und jede einzelne von ihnen hat eine eigene Geschichte und individuellen Beweggründe, auf der Flucht zu sein. Wer einmal mit klarem Kopf und offenem Herz genau darüber nachdenkt, dem wird klar sein, dass sich niemand aus Lust und Laune auf diese gefährliche Fluchtroute begibt. Die Fluchtursachen sind komplex und teils tief mit der europäischen Geschichte und dem europäischen Wohlstand verwoben. Auch das müssen wir uns bewusst machen, wenn wir uns fragen, was Menschen aus dem globalen Süden in Richtung Europa treibt.

teleschau: Die Meinungen zu diesem Thema scheinen fest zementiert zu sein.

Stefanie Groth: Ich teile die Einschätzung nicht. Wann immer ich im Zuge der Arbeit an diesem Film aus Skepsis und Kritik gestoßen bin, sei es beruflich oder im privaten Umfeld, stellte sich eigentlich schnell heraus, dass nicht Ablehnung, oder Hass bezüglich den Themen "Migration" und "Flucht" Ursache für den Gegenwind waren, sondern Ungewissheit, Vorurteile und offene Fragen, über die man sich austauschen muss. Was uns langfristig nicht weiterbringt, da bin ich überzeugt, ist das Gefühl von Ohnmacht. Da sind auch die Medien gefragt, diese komplexen Themen "Flucht" und "Migration" jenseits von Nachrichtenschlagzeilen zu vermitteln. Wenn der einzige Punkt, an dem viele Menschen mit der Thematik in Kontakt kommen, die Nachrichten sind, in denen man dann ab und an ein NGO-Schiff mit 300, 400, 500 oder mehr Menschen darauf sieht, die darauf warten, in einen sicheren europäischen Hafen einlaufen zu dürfen, dann finde ich es erst mal wenig verwunderlich, wenn das auf viele erschreckend bis abschreckend wirkt. Man muss diese Zahlen ins Verhältnis setzen. Und man muss sich bewusst machen: Wären diese 500 Menschen nicht auf diesem Rettungsschiff, dann wären sie tot.

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"Die echten Probleme liegen an Land"

teleschau: Wo sollte Ihrer Meinung nach angesetzt werden?

Stefanie Groth: Die echten Probleme liegen an Land. Nicht die zivile Seenotrettung, die Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, ist das Problem, sondern eine europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, die es seit Jahren nicht schafft, Fluchtursachen zu bekämpfen; der es nicht gelingt, sich auf eine praktikable Regelung zur Aufnahme von Geflüchteten zu einigen, die alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Die stattdessen mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammenarbeitet, die wiederholt Menschenrechtsbrüche begeht; und die diejenigen, die draußen im Mittelmeer retten, kriminalisiert und sie in ihrem Engagement behindert. Von der EU einzufordern, dass sie ihrer Verantwortung nachkommt, wäre die Aufgabe von jedem Einzelnen, der findet, dass es so nicht weitergehen kann. Menschen sehenden Auges ertrinken zu lassen, ist keine Lösung, sondern ein Verbrechen. Ich habe in all den Gesprächen mit Kritikern noch niemanden getroffen, der das anders sehen würde.

teleschau: Wie geht es den Reschke-Brüdern heute?

Stefanie Groth: Die drei sind weiterhin aktiv, die "Sea Punks" wachsen als deutschlandweites Netzwerk an Helferinnen und Helfern. Raphael Reschke ist auch für andere Organisationen im Einsatz, wie Seawatch und Sea Eye; auch Gerson Reschke wurde für eine Mission von "Resqship" gecrewed. Nachdem die "Sea Punks" 2020/21 bereits das Rettungsschiff "Rise Above" umgebaut und einsatzbereit gemacht haben, das seit Herbst 2021 im Mittelmeer mit der Organisation "Mission Lifeline" unterwegs ist, sind sie längst an der nächsten Geschichte dran. Neben dem Umbau von Duschcontainern für Flüchtlingslager an der bosnisch-kroatischen Grenze, treiben sie eine Spendenkampagne voran, um ein weiteres Schiff in den Einsatz bringen zu können. Die Kampagne wird von bekannten Gesichtern aus Kunst und Kultur unterstützt.

("Mission im Mittelmeer - Jedes Menschenleben zählt" ist ab Anfang Dezember in der ARD Mediathek zu sehen. Der Beitrag wird am Mittwoch, 1. Dezember, 23.00 Uhr, im rbb-Fernsehen und am Donnerstag, 2. Dezember, 23.15 Uhr im SWR-Fernsehen, ausgestrahlt.)

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