Produzentenlegende wird 75

Ralph Siegel: Ein Musical für den lieben Gott?

26.09.2020 von SWYRL/Eric Leimann

Ralph Siegel wird 75 Jahren alt und veröffentlicht eine neue Biografie. Komisch, denn schon zum 70. Geburtstag kam ein dickes, selbst geschriebenes Buch des deutschen Komponisten und Produzenten-Paten heraus. Im Interview erklärt der ESC-Sieger von 1982, warum er sich heute ganz anders fühlt.

Am 30. September wird Ralph Siegel 75 Jahre alt. Jener Mann, der für so viele Schlager- und Chanson-Hits der deutschen Nachkriegsgeschichte sorgte wie sonst keiner. 25-mal nahm Siegel am Eurovision Song Contest teil, der früher Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß. 1982 gewann er den Wettbewerb, als er Nicole "Ein bisschen Frieden" singen ließ. Nach einigen schweren Erkrankungen - zuletzt eine Herz-OP in diesem Jahr - möchte der Münchener Komponist und Produzent noch einmal durchstarten. Seine Autobiografie, die eigentlich schon vor fünf Jahren erschienen war, hat er noch einmal neu geschrieben und dazu eine Werkschau mit rund 200 Songs veröffentlicht. Auch am ESC würde Ralph Siegel gerne noch einmal teilnehmen - doch dort scheint seine Zeit abgelaufen zu sein. Ein Gespräch über Alterseinsichten, die neue Ära des Musikgeschäfts und das "Problem", nicht in Rente gehen zu können.

teleschau: Sie veröffentlichen fünf Jahre nach Ihrer Autobiografie eine neue. Ist denn seit Ihrem 70. Geburtstag so viel passiert?

Ralph Siegel: Meine Jugend sehe ich immer noch genauso, die kann man nicht neu erfinden. Ich habe sie aber von 470 auf 200 Seiten gekürzt. Meine alte Autobiografie habe ich zu meinem Siebzigsten geschrieben, aber zuvor zwei Jahre dran gearbeitet. Das ist also schon sieben Jahre her. In meinem Leben passiert in einem solchen Zeitraum mehr, als bei vielen anderen Leuten im gesamten Leben (lacht). Deshalb hatte ich das Bedürfnis, noch einmal neu zu schreiben.

teleschau: Hat sich Ihr Leben denn so stark verändert?

Siegel: Man sieht das Leben mit 75 Jahren anders. Ich hatte vor meinem ersten Buch zwei schwere Krebs-Operationen hinter mich gebracht und überlebt. Das war 2007 und 2010. Es waren Jahre, in denen ich in meiner Energie und meinem Arbeitsvermögen eingeschränkt war. Wer sich von so etwas erholt, hat eine andere Einstellung zum Leben.

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"Wenn ich mir heute einen neuen Mercedes kaufe, ist da gar kein CD-Player mehr drin"

teleschau: Bewerten Sie Ihr Leben denn auch neu?

Siegel: Das Leben fühlt sich heute anders an. Allein deshalb, weil fast alle Freunde und Partner von damals nicht mehr existieren. Sie sind entweder gestorben, auf dem Weg zum Elefantenfriedhof oder in Rente. Mit 75 hat man eine komplett andere Lebenseinstellung als mit 65 oder 70. Allein, wenn ich die Einladungsliste zur Feier meines 65. oder 70. mit der von heute vergleiche - da fehlen ganz viele Namen, die ich nicht mehr einladen kann, weil sie nicht mehr da sind.

teleschau: Macht Ihnen der Beruf denn noch Freude?

Siegel: Das Komponieren und Produzieren macht mir noch sehr viel Spaß, aber der Beruf selbst hat sich in den letzten Jahren komplett verändert. Zum Negativen. Wir verkaufen heute fast keine CDs mehr. Schallplatte und Kassette stehen schon längst im Museum. Wenn ich mir heute einen neuen Mercedes kaufe, ist da gar kein CD-Player mehr drin. Auch die klassische Welt des Liedschreibens ist tot. Heute kann sich jeder etwas mit Technik zurechtschustern, auch wenn man dafür natürlich immer noch eine musische Begabung braucht. Ich beschäftige mich heute vor allem mit dem, was ich schon immer machen wollte - dem Schreiben von Musicals. Auch wenn ich mit meinen Projekten bisher viel Geld verbrannt habe, sehe ich darin das, was ich wirklich machen möchte.

teleschau: Sie sprechen sehr offen über Ihre Niederlagen - sowohl im Buch wie auch jetzt im Interview. Doch wie schwer tragen Sie daran?

Siegel: Niederlagen gehören zum Leben, und ich hatte viele davon. Manche Niederlagen kommen sehr unerwartet. Meine letzte Biografie endete noch in Glückseligkeit mit meiner damaligen Frau, es war meine dritte Ehe. Zu meinem 70. Geburtstag war ich dann aber schon wieder allein (lacht). Manche Erlebnisse sind Sieg und Niederlage zugleich. Ich habe ein Stück in New York vor 100 Fachleuten vorgestellt, die 20 Minuten lang tobend geklatscht haben. Trotzdem fand sich danach kein Produzent, der 15 Millionen Dollar in die Hand nehmen wollte, um die Sache zu produzieren. Viele Dinge im Leben bedeuten Freude und Schmerz zugleich. Wenn man älter wird, wird einem das immer mehr klar.

"Die Zeit der Virtuosen ist vorbei"

teleschau: Was würden Sie anders machen, wenn Sie noch einmal 20 wären, aber die Erfahrung von heute hätten?

Siegel: Ich bin aber nicht mehr 20 - daraus muss man das Beste machen. Wenn man mich fragt, ob es früher besser oder schlechter war, sage ich: Es war einfach anders. Wir sind als Kinder mit einem Bruchteil der Reize und Informationen von heute aufgewachsen. Ich hatte Zeit, vier Musikinstrumente und vier Sprachen von der Pike auf zu lernen. Wer würde sich heute noch die Zeit dafür nehmen? Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie mir diese Zeit zum Lernen geschenkt haben. Mit das Einzige, das heute noch genauso ist wie damals: Man braucht Eltern, die einen richtig erziehen. Dann hat man einen guten Start ins Leben.

teleschau: Heute können viele erfolgreiche Songwriter und Komponisten keine Noten lesen geschweige denn Arrangements notieren. Verstehen sie deshalb weniger von Musik?

Siegel: Wer heute Musik macht, beschäftigt sich mit ganz anderen Techniken. Da geht es nicht mehr darum, das Klavier oder die Gitarre besonders gut zu beherrschen. Wenn man nun einen Computer kauft, bekommt man kostenlos Programme zum Komponieren und Arrangieren mit dazu. Auch ich arbeite seit 20 Jahren mit Computern. Es gibt heute eine andere Art und Weise, an Musik heranzugehen. Eine musische Begabung braucht man trotzdem, sonst nutzt die ganze Technik nichts. Ich hatte meine erste Band mit 14 Jahren, damals musste man seine Instrumente spielen können, sonst lief nichts. Heute hat jeder unbegrenzte Möglichkeiten. Was nicht heißt, dass es einfacher ist, etwas daraus zu machen.

teleschau: Mittlerweile ist deutschsprachige Musik populärer als zu fast jeder Phase Ihrer langen Karriere. Hätten Sie das erwartet?

Siegel: Texte waren und sind enorm wichtig in der populären Musik. Ohne Text ist der schönste Song nur wie Filmmusik. Eine stimmungsvolle Soße, die nicht allein existieren kann. Man muss heute aber nicht mehr singen können, um Texte zu transportieren. Die Leute rappen dann eben. Oder sie erzeugen einen Loop aus einer kurzen Sequenz und verändern sie mit dem Computer. Die Zeit der Virtuosen ist vorbei.

teleschau: Sie haben über 2.000 Titel bei der GEMA angemeldet. Wie viele davon finden Sie heute noch richtig gut?

Siegel: Ich habe die nicht nur angemeldet, sondern zuvor auch komponiert und produziert. Natürlich habe ich weitaus mehr Titel geschrieben, aber nicht alle veröffentlicht. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Kein Komponist schreibt bewusst einen Titel, den er schlecht findet. Aber natürlich gibt es auch Pflichtaufgaben wie jene, mal eben zwölf Lieder für die Fußball-Nationalmannschaft und Peter Alexander zu schreiben, die nach Mexiko fahren. Da ist natürlich nicht jedes dieser zwölf Lieder im Nachhinein gleich gut. Trotzdem gibt man sich zu jeder Zeit Mühe, wenn gerade etwas entsteht.

"Ich würde schon noch mal gerne teilnehmen ..."

teleschau: Welches Lied ist ihr bestes?

Siegel: Es sind zu viele, um diese Frage zu beantworten. Manche sagen, "Theater" wäre meine schönste Komposition. Sagen wir es so: Es gibt Titel, die herausstechen. Man kann nicht jeden Tag "Du kannst nicht immer 17 sein", "Dschinghis Khan" oder "Ein bisschen Frieden" schreiben. Zu meinem Geburtstag erscheint eine CD-Box mit 200 Titeln von mir. Plus eine weitere CD, die so noch nie ein Komponist gemacht hat - nämlich eine mit sieben oder acht Ausschnitten aus Musicals, die noch nicht veröffentlicht sind. Wenn man so viel geschrieben hat und weiter schreibt wie ich, ist die Frage nach dem Besten enorm schwer zu beantworten.

teleschau: Sie haben 25-mal am Eurovision Song Contest teilgenommen. Zuletzt mit eher bescheidenem Erfolg. Können Sie den Wettbewerb nicht loslassen?

Siegel: Jeder Eurovision-Titel bedeutet drei bis sechs Monate Arbeit. Sie geht vom September bis in den Mai des nächsten Jahres, wenn der Wettbewerb stattfindet. In dieser Zeit betreuen Sie ein Lied, was Sie hoffentlich durchbringen, durch einen langen Entwicklungsprozess. Ich würde schon noch mal gerne teilnehmen, am liebsten natürlich für Deutschland. Ob es noch etwas wird, entscheiden andere Leute. Zum Beispiel Menschen, die beim NDR in den verantwortlichen Gremien sitzen. Ich habe mich vor zwei Jahren mal für das sogenannte "Writer Camp" beworben, wurde aber abgelehnt. Man sagte mir, ich wäre zu prominent dafür.

teleschau: Haben Sie Angst davor, in Rente zu gehen?

Siegel: Ich bin kein Rentner. Ich verstehe Leute, die in Rente gehen, weil sie davor einen Job gemacht haben, der ihnen keine Freude bereitete. Künstler gehen nicht in Rente. Ich zumindest kenne keinen. Niemand, der schreibt, malt oder komponiert, hört irgendwann komplett damit auf. Vielleicht verschieben sich Art und Fokus der eigenen Kreativität. Für mich stehen jetzt meine neuen Musicals im Vordergrund. In erster Linie das Musical "Zeppelin", dessen Premiere wegen Corona von November 2020 auf Mitte 2021 verschoben wurde. Bei mir geht es nun darum, die Premiere noch zu erleben. Aber eine Rente wird es für mich nicht geben. Es sei denn, der liebe Gott sagt zu mir eines Tages: "Bitte, schreib mir hier oben ein Musical".

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