Tatort: Macht der Familie - So. 18.04. - ARD: 20.15 Uhr

Tolstois Tatort

12.04.2021 von SWYRL/Eric Leimann

Die Kommissare Falke (Wotan Wilke Möhring) und Grosz (Franziska Weisz) drehen im neuen "Tatort" am großen Polit-Thriller-Rad. Über einen V-Mann ermitteln sie bei russischen Waffenhändlern. Die sind keineswegs stiernackigen Proleten, sondern kulturbeflissene Schöngeister.

"Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Der Satz stammt aus Leo Tolstois Roman "Anna Karenina" (1878) - und er findet sich 143 Jahre später im neuen "Tatort" der Kommissare Falke (Wotan Wilke Möhring) und Grosz (Franziska Weisz) wieder. Natürlich sind mit "Familie" weniger die seltsam beziehungslosen Bundespolizisten aus Hamburg gemeint, sondern jene Menschen, denen sie im Nachfolgekrimi zum starken Norderney-Fall "Tödliche Flut" begegnen. Der Gegensatz zwischen ihren beiden jüngsten Fällen könnte größer nicht sein. Warf man eben noch im Strickpulli ein paar Kluntjes in den Ostfriesen-Tee, um ein feinpsychologisches Kammerspiel zu benässen, ist diesmal ein Thriller mit Russen-Gangstern, Agenten und verdeckten Ermittlern an der Reihe.

Zu Beginn darf die frisch zur Hauptkommissarin ernannte Julia Grosz einen komplexen Zugriff leiten, bei dem ein verdeckter Ermittler - ein alter Freund Falkes - in den inneren Kreis der russischen Waffenhändler-Familie Timofejew vorzudringen scheint. Die Bundespolizei ist drauf und dran, einen Deal des alten Oligarchen Victor Timofejew (Wladimir Tarasjanz) auffliegen zu lassen, der moderne russische Raketenwaffen neuen Besitzern zuführen möchte.

Der Einsatz endet in einem Debakel, wobei auch die Familie Timofejew einen tragischen Verlust erleidet. Weil die Bundespolizei dringend einen neuen Zugang zum Clan benötigt, aktiviert man Marija Timofejew (Tatiana Nekrasov), die Nichte des Waffenhändlers. Sie arbeitet - Zufälle gibt es - ausgerechnet beim Hamburger LKA als verdeckte Ermittlerin und wurde von Falke ausgebildet. Kann die toughe, schillernde Powerfrau das Geheimnis lösen - oder arbeitet sie am Ende doch im Sinne ihrer eigenen Familie?

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Die Oligarchen: ein Haufen schwermütiger Zweifler

Der 60-jährige Autor und Regisseur Niki Stein, zuletzt inszenierte er das im Oktober 2020 gesendete Biopic "Louis van Beethoven" mit Tobias Moretti, hat sich für seinen neuen "Tatort" viel vorgenommen: die harte Lebensrealität verdeckter Ermittler beschreiben, den moralischen Kodex russischer Oligarchen mit verwerflichen Geschäftsmodellen beleuchten und schließlich komplexe Familienbande in Jagd-Villen mit denen in Falkes Altpunk-Wohnung vergleichen, aus der dessen mittlerweile erwachsener Sohn ausziehen will. Hinzukommen thrillerhafte Szenen mit Überwachung, Verfolgung und sogar Schusswechsel mit Explosionen, als wäre Nick Tschiller aka Til Schweiger zurück "on duty" in Action-Hamburg.

Leider ist Stein, dessen letzter "Tatort" der Fall "Borowski und das Haus am Meer" (2019) war, dieser Polit-Familien-Thriller viel zu voll geraten. Die Figuren des TV-Routiniers ("Rommel") - in Deutschland niedergelassene Russen - wirken reichlich konstruiert, was jedoch die Schuld des Drehbuches und nicht die der Schauspieler ist. Im Gegenteil: Die Timofejews machen durchaus einen guten Job - sie werden von angenehm unverbrauchten Schauspiel-Gesichtern mit russischen und polnischen Wurzeln gespielt.

Die charismatische Schauspielerin Tatiana Nekrasov, als Wandlerin zwischen den Welten deutsche Polizei und russische Oligarchen-Familie hat sie einen besonders unglaubwürdigen Spagat zu vollziehen, sticht aus dem Ensemble heraus. Dass die 38-jährige Deutsch-Russin der Rolle der Ermittlerin, deren wahre Motive angenehm lange in der Schwebe bleiben, einen gehörigen Glanz verleiht, ist bei diesem bestenfalls mittelmäßigen "Tatort" keineswegs selbstverständlich.

Die in Berlin geborene Nekrasov darf fast schon als Muse des Filmemachers Niki Stein bezeichnet werden - schließlich wurden ihre Rollen in dessen letzten Filmen stetig größer. Neben ihr gibt es noch einen weiteren Bonus-Grund, diesen überkonstruierten NDR-"Tatort" einzuschalten. Die Russen-Mafia wird hier mal nicht als stiernackige Posse von Proletenschlägern inszeniert, sondern als dandyesker Haufen schwermütiger Zweifler mit Liebe zu Tschechow, Tolstoi und Rachmaninow. Es ist ja auch hart, wenn man gezwungen ist, die Jagd, das Klavierspiel oder Zitieren russischer Dichter für den Empfang eines Geldkoffers aus Terroristenhand zu unterbrechen. Oder waren es doch Freiheitskämpfer, denen man die Raketen gab?

Wie immer gibt es mehrere Möglichkeiten, die selbst gelebte Moral zu deuten. Hätte der trotzdem einigermaßen spannende, weil actionreiche "Tatort" auf das ein oder andere Element seiner überkonstruierten Erzählung verzichtet - die klugen Gedanken zum Selbstverständnis der sensiblen Verbrecherfamilie wären vielleicht ein wenig spürbarer im Film gewesen.

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