ZDF-Talk "Precht" wird zehn Jahre alt

Richard David Precht im Interview: "Für einen Rückfall in einen Kalten Krieg haben wir einfach keine Zeit mehr"

05.09.2022 von SWYRL/Eric Leimann

Im September 2012, vor zehn Jahren, lief zum ersten Mal "Precht" im ZDF. Mittlerweile brachte es Deutschlands bekanntester Philosoph und Bestseller-Autor auf 61 Gäste und Gespräche. Oft erhellender und tiefgründiger als vieles, was sonst im TV an Gesprächen stattfindet. Ein Bilanz-Interview.

Seit zehn Jahren betreibt Richard David Precht eines der ungewöhnlichsten Talk-Formate des deutschen Fernsehens. Unter vier Augen geht es in "Precht" mit faszinierenden Expertinnen und Experten um die großen Fragen der Menschheit und unseres gegenwärtigen Lebens. Immer hoch konzentriert, dennoch gut verständlich und abseits jeglicher Tagesaktualität und Polemik. Verglichen mit sonstigen TV-Formaten, ist die Sendung eigentlich eine Anti-Talkshow. Richard David Precht nennt sein Format deshalb auch lieber Gespräch als Interview. Zum Zehn-Jahre-Jubiläum ("Precht" am Sonntag, 18. September, 23.45 Uhr, oder am Morgen des gleichen Tages in der ZDF-Mediathek) hat sich der 57-Jährige einen lang gehegten Wunsch erfüllt: Er besuchte die legendäre britische Verhaltensforscherin und Schimpansen-Beobachterin Jane Goodall, eine Ikone der Umweltbewegung. Im Interview spricht Deutschlands bekanntester Philosoph über diese - für ihn denkwürdige - Begegnung und erzählt, warum wir nicht mehr viel Zeit haben, uns als Menschheit zu retten.

teleschau: Denken Sie lange darüber nach, welche Frage Sie Ihren Gästen als Erste stellen?

Richard David Precht: Mal so, mal so. Manchmal kommt mir die erste Frage relativ schnell in den Sinn. Manchmal zweifle ich aber nach ein, zwei Tagen, ob das nun wirklich eine gute Eröffnung wäre. Dennoch arbeite ich ja mit einem kleinen Trick. Ich wünsche mir von den Gästen - und das sage ich ihnen auch vorher -, dass sie mir auf die erste Frage eine kurze Antwort geben. Dabei handelt es sich meistens um Fragen, auf die man keine kurze Antwort geben kann. Darin besteht der Witz. Die erste Frage und Antwort sollen der Eisbrecher sein.

teleschau: Und das funktioniert?

Precht: Meistens. Ich erinnere mich daran, dass mein Gast Alexander Kluge, der dafür bekannt ist, sehr lange und barocke Antworten zu geben, mir auf die erste Frage eine extrem kurze Antwort gegeben hat. Sie war so kurz, dass sie mich aus dem Konzept brachte. So etwas kann dann natürlich auch passieren (lacht).

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"Vor zehn Jahren war unser Lebensgefühl ziemlich anders"

teleschau: Wird bei "Precht" eigentlich geschnitten oder bildet die Sendung 1:1 das tatsächliche Gespräch ab?

Precht: Oft ist es so, dass wir gar nichts schneiden. Manchmal kommt es aber vor, dass der Gast darum bittet, noch etwas hinzufügen zu dürfen. Oder dass er oder sie sagen, sie hätten sich an einer Stelle gedanklich verhaspelt oder so. Manchmal fällt aber auch der Redaktion oder dem Produzenten noch eine wichtige Frage ein. Dann nehmen wir im Anschluss manchmal noch etwas auf und fügen das an oder ein. Aber so etwas passiert nicht wirklich oft. Ansonsten ist alles chronologisch so passiert, wie es in "Precht" zu sehen ist. Es ist keine zusammengebastelte Sendung.

teleschau: Vor zehn Jahren, als Sie mit "Precht" anfingen, war die Welt noch eine andere. Hat sich die Sendung - mit der Veränderung dieser Welt - stark gewandelt?

Precht: Ja. Wir sind im Vergleich zu 2012 alle sehr viel politischer geworden. Weil die Zeiten politischer geworden sind. Wir hätten uns am Anfang vorstellen können, dass "Precht" öfter eine Sendung über Kunst, Schönheitsideale der Gesellschaft oder Religion macht. Themen, die keine Zeitrelevanz haben. Wir wollten damals alles beackern, was Gegenstand der Philosophie ist. Jetzt ist es anders. Die Dringlichkeit des Politischen ist in unser Leben zurückgekommen, und wir wollen das philosophisch vertiefen. Man erinnere sich: Vor zehn Jahren war unser Lebensgefühl ziemlich anders. Da befanden wir uns in der Merkel-Ära, noch vor der Flüchtlingskrise. Damals konnte man mal über dies, mal über das reden. Diese Zeiten sind erst mal vorbei.

teleschau: Grenzen Sie sich bewusst von den vielen politischen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ab? Oder sagen Sie: "Ich bin so anders, mich kann niemand verwechseln"?

Precht: Verwechslungsgefahr sehe ich aus zwei Gründen nicht. Zum einen gibt es kein anderes 45-Minuten-Gespräch im Fernsehen, auf jeden Fall nicht bei den größeren Sendern. Man sieht hin und wieder längere Interviews, so wie die "Sommerinterviews" im ZDF mit Politikern. Aber das sind keine Gespräche, sondern eben Interviews. Ich dagegen interviewe niemanden, sondern wir unterhalten uns, um etwas gemeinsam zu vertiefen. Was uns außerdem komplett von den Talkshows unterscheidet: Es geht bei uns nie um Politiker, auch wenn sie zu Gast sind, sondern es geht dann um Politik. Das Persönliche und Taktische ist uns weit weniger wichtig als die Sache. Tagesaktuelles ist nicht wichtig. Das ist ein großer Unterschied.

"Affen sind in der Philosophie ein großes Thema ..."

teleschau: Sie meinen, dass sie immer über die politischen Ziele an sich reden. Nie darüber, wie man sie erreichen könnte?

Precht: Zumindest reden wir nie über Posten, Machtkalkül und Parteitaktik. Tatsächlich beschäftigen ja solche Themen die anderen Talkshows sehr stark.

teleschau: Jetzt haben Sie sich für Ihre Jubiläumssendung Jane Goodall, also eine Biologin und Verhaltensforscherin, ausgesucht. Zufall oder bewusste Entscheidung?

Precht: Das war ganz sicher kein Zufall, sondern ein lang gehegter Wunsch. Ich habe mich vor zehn Jahren schon mal mit ihr unterhalten. Wenn ich sagen soll, welche Menschen mich auf meinem Lebensweg am meisten beeindruckt haben und faszinieren, gehört sie auf jeden Fall weit oben in diese Liste hinein. Das Gespräch ist jetzt ein paar Tage her - und ich stehe immer noch unter dem Einfluss dieser Begegnung.

teleschau: Wie kommt es, dass Sie sich so sehr für Verhaltensforschung interessieren?

Precht: Biologie ist ein großes Thema in der Philosophie. Gerade mit Primaten, also Jane Goodalls Gebiet, habe ich mich intensiver beschäftigt. Nicht wie sie in der Feldforschung (lacht), aber eben aus der Ferne. Affen sind in der Philosophie ein großes Thema ...

teleschau: Weshalb?

Precht: Das kommt daher, weil sich Philosophen von Berufs wegen die Frage stellen, was den Menschen zum Menschen macht. Da geht es um die Unterscheidung: Was teilen wir mit Affen - und was eben nicht? Der Mensch hat sich lange darüber definiert, was ihn vom Affen unterscheidet. Ich glaube, dass wir ihn zunehmend darüber definieren müssen, was ihn mit dem Affen verbindet.

"Wir müssen das ökologische Desaster verhindern"

teleschau: Was fasziniert Sie an Jane Goodall?

Precht: Sie ist 1960 im Alter von 26 Jahren nach Tansania gegangen, um eine Forschungsstation mit Schimpansen aufzubauen. Damals hatte sie noch kein Studium abgeschlossen. Sie ist der erste Mensch, der Schimpansen so ausgiebig in der Natur beobachtet hat. Es ist ein faszinierendes Lebenswerk, das mittlerweile 60 Jahre umfasst. Gleichzeitig ist sie eine der internationalen Ikonen des Naturschutzes, vielleicht sogar die bekannteste Naturschützerin der Welt.

teleschau: Und auf der persönlichen Ebene - wie war sie?

Precht: Jane Goodall hat mit 88 Jahren immer noch die Ausstrahlung einer schönen Frau. Auf der einen Seite wirkt sie sehr sanft. Doch dann kann sie innerhalb von Sekunden einen Gesichtsausdruck annehmen, mit dem man eine Lokomotive aufhalten könnte. Das beeindruckt mich sehr. Gerade die Kombination aus beidem.

teleschau: Wie deprimiert ist sie am Ende eines langen Forscherlebens über den Zustand der Welt?

Precht: Das wollte ich natürlich auch von ihr wissen. Die Dame ist von einem unerschütterlichen Optimismus. Er ist auch nicht strategisch, sondern echt. Jane Goodall verweist gerne auf alles, wo es Fortschritte gegeben hat. Da kann sie aus ihrer eigenen Arbeit und ihrer Stiftung viel aufzählen. Sie hat sicher dazu beigetragen, den Menschen immer wieder Mut zu machen.

teleschau: Was ist aus Goodalls Sicht, aber auch aus der von Richard David Precht, das Positive, das Sie aus unserer insgesamt doch sehr düsteren Gegenwart mitnehmen?

Precht: Ach, da sind wir uns eigentlich einig. Klar ist, die Geschichte der Menschheit folgt keiner Abwärtsbewegung. Das kann man sich allein durch die Frage klarmachen, in welcher Zeit man lieber gelebt hätte. Und zwar nicht in der Rolle eines Kaisers, sondern in der eines Bauern oder kleinen Handwerkers. Da kann man doch nur sagen: heute! Wenn man alle Annehmlichkeiten und Errungenschaften der Geschichte abwägt, würde einem also keine Zeit einfallen - und wahrscheinlich auch kein Ort auf dieser Welt -, in der oder an dem man lieber wäre als hier. Es ist ja schon mal ein Zeichen dafür, dass unsere Geschichte bei allen Irrungen und Wirrungen eine eher positive Entwicklung genommen hat. Gleichzeitig steht die Menschheit vor der größten Herausforderung, vor der sie je stand: Wir müssen das ökologische Desaster verhindern. Es ist die erste tatsächlich globale Aufgabe, die wir als Menschheit haben. Und es ist wirklich nicht mehr viel Zeit, die uns bleibt, um Lösungen auf die Beine zu stellen.

"Ganz oben auf meiner Wunschliste steht seit jeher Papst Franziskus"

teleschau: Was wird sonst passieren?

Precht: Nun, dann geht es mit dem Planeten weiter, aber eben ohne menschliche Zuschauer.

teleschau: Nicht nur die Natur kämpft ums Überleben, auch die Demokratie. Glauben Sie, dass beide Themen etwas miteinander zu tun haben?

Precht: Die Frage, ob sich die Demokratien im Überlebenskampf befinden, ist ein Riesenthema. Es ist so komplex, dass wir das hier nicht befriedigend beantworten können. Ich hoffe sehr, dass die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelösten Erschütterungen nicht von allzu langer Dauer sind. Denn für einen Rückfall in einen Kalten Krieg, eine dauerhafte Zeitenwende, haben wir einfach keine Zeit mehr. Wir können uns aufgrund der ökologischen Katastrophe keine solche dauerhafte militärische Konfrontation mehr leisten. Weder finanziell noch ökologisch. Wir brauchen jetzt die Anstrengung aller, dafür zu sorgen, dass unsere Enkel noch einen bewohnbaren Planeten vorfinden.

teleschau: Wen wünschen Sie sich noch als Gesprächspartner für Ihre Sendung?

Precht: Wir werden, weil wir damit gute Erfahrungen gemacht haben, in Zukunft häufiger mal internationale Gäste haben, die wir deutsch synchronisieren. Damit wird der Kreis denkbarer Gesprächspartner sehr viel größer. Ganz oben auf meiner Wunschliste steht seit jeher Papst Franziskus. Aber wir haben bisher noch nicht mal versucht, ihn einzuladen. Ich vermute, er hat für uns keine Zeit - und niemand kann es ihm verdenken.

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