Polizeiruf 110: Sie sind unter uns - So. 21.09. - ARD: 20.15 Uhr

Kein Kind kommt böse zur Welt

16.09.2025 von SWYRL/Eric Leimann

Der "Polizeiruf 110: Sie sind unter uns" geht an die Nieren. Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) bekommt es mit einem jugendlichen Amokläufer zu tun, der an seiner Schule Menschen erschießt. Es ist unklar, welchen Plan er verfolgt. Auch die Zuschauer bleiben lange im Ungewissen.

Filme über Amokläufe, zumal an Schulen, sind ein Wagnis. Sie erzählen von der krassesten, ja unheimlichsten Form von Gewalt, die von Einzelnen ausgehend in geschützte Räume unserer Gesellschaft eindringt. Tatorte sind Schulen, Volksfeste, Weihnachtsmärkte. Der beklemmende "Polizeiruf 110: Sie sind unter uns" mit Claudia Michelsen als Magdeburger Kommissarin Doreen Brasch thematisiert eine solche Tat. Gewagt sind solche Filme, weil sie in Form eines konventionellen Thrillers auf geschmackvollste Weise scheitern können. Schließlich gibt es derlei Taten wirklich. 2002 erschoss am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt ein 19-jähriger Ex-Schüler zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizeibeamten und sich selbst. Darf man aus solch einen verstörenden Stoffen Filme machen?

Zu Beginn lernt man Schüler Jeremy (Mikke Rasch) kennen. Verloren im Unterricht, gemobbt von Mitschülern, und daheim wartet die schwerkranke Mutter (Maja Beckmann) auf die Hilfe des brav-distanzierten Halbwüchsigen. So weit, so bekannt. Und doch ist schon früh klar: Dieser "Polizeiruf" ist kein Thriller von der Stange. Er dramatisiert nicht, sondern bemüht sich um grausame Nüchternheit. Im Film von Jan Braren (Drehbuch) und Esther Bialas ist nichts auf Effekt gebürstet: Jeremy kommt eines Tages schwer bewaffnet zur Schule. Dazu trägt er eine Bodycam, die sein Handeln dokumentiert. Jeremy erschießt zwei Lehrkräfte und zielt auf eine Schülerin. Der 17-Jährige streift weiter durchs Gebäude. Er wirkt ruhig. Welchen Plan verfolgt er? Derweil verschanzen sich Schüler und Lehrer in den Räumen des Gebäudes. Draußen leitet Braschs Chef Lemp (Felix Vörtler) eine eilig zusammengestellte Einheit, um mit dem Attentäter in Kontakt zu kommen - und ihn zu stellen.

Abonniere unseren Newsletter und wir versprechen, deine Mailadresse nur dafür zu verwenden.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

Der Soundtrack eines Albtraums

Bei den Filmfestspielen in Cannes 2003 gewann Gus van Sants verstörender Highschool-Attentat-Film "Elephant" die Goldene Palme. Seine Handlung bezieht sich frei auf den Amoklauf 1999 an der Columbine High School in Colorado. Damals starben zwölf Schüler, ein Lehrer und die beiden Attentäter. Der Film, in Deutschland lockte er gerade einmal lächerliche 36.000 Besucher in die Kinos, wurde damals von der Kritik gefeiert - und auch verteufelt. Letzteres, weil er keine Erklärungen für das Grauen lieferte und - wie nun auch dieser "Polizeiruf" - im nüchternen und deshalb umso verstörenderen Stil gefilmt ist. Immerhin: Jan Braren, der für den Krimi-Standort Magdeburg herausragende Folgen wie "Der Verurteilte" und "Ronny" geschrieben hat, verlässt den nihilistischen Stil der Anfangsphase nach einem gefühlten Drittel des Films. Und er liefert Erklärungen, an denen auch die Ermittler quasi stellvertretend fürs Publikum fieberhaft arbeiteten.

Richtig stark, aber nichts für sensible Gemüter, ist auch die Inszenierung durch Esther Bialas ("Another Mondey", "Charité", Staffel vier). Die Regisseurin recherchierte gründlich und setzte sich intensiv mit dokumentarischen Aufzeichnungen vor allem von US-Schulamokläufen auseinander. "So grausam diese Quellen sind, sie halfen mir, die Atmosphäre einer solchen Extremsituation besser zu verstehen", berichtet sie. Für die beklemmend ruhigen Szenen von Jeremys Todesweg durch die Schule, erschuf Bialas ein beeindruckendes Sounddesign. Statt Musik hört man: die Stille, das Summen von Lampen, entfernte Stimmen oder Türen, die sich in der Ferne öffnen und schließen. Der Soundtrack eines Albtraums.

Drehbuchautor von "Homevideo"

Autor Jan Braren, der schon 2011 für sein mit allen wichtigen deutschen TV-Preisen gekröntes Werk "Homevideo" aus dem Schulumfeld erzählte, möchte mit "Polizeiruf 110: Sie sind unter uns" daran erinnern, wie wichtig es in Zeiten der "Wahrheitskriege, Desinformationskampagnen und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien" ist, miteinander im Gespräch zu bleiben.

Jeremy ist kein Monster, sondern ein Junge, der einsam und unter großem Stress vom Weg abgekommen ist. Im Film werden seine Taten in keinster Weise entschuldigt. Und doch kann man diesen stillen Täter nicht als Monster abtun. "Für mich bleibt die Überzeugung", sagt auch Regisseurin Esther Bialas, "dass kein Kind böse zur Welt kommt".

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL