"Erfundene Wahrheit - Die Relotius Affäre"

Relotius-Dokumentarfilm bei Sky: Wenn wir glauben, was wir glauben wollen

19.03.2023 von SWYRL/Eric Leimann

Ende 2018 ging "Der Spiegel" mit dem Fall Relotius an die Öffentlichkeit: Einer der Star-Reporter des Magazins hatte große Reportagen gefälscht oder zumindest viel dazu erfunden. Im starken Sky-Dokumentarfilm wird die unglaubliche Geschichte nacherzählt.

Eines vorweg: Claas Relotius selbst, den Filmemacher Daniel Andreas Sager ("Hinter den Schlagzeilen") für seine Aufarbeitung des wahrscheinlich größten Presse-Skandals seit den gefälschten "Hitler-Tagebüchern" angefragt hatte, gab für "Erfundene Wahrheit - Die Relotius Affäre" keine Interviews. Wahrscheinlich ist das für Sagers Film sogar besser. Ein "erklärender" Relotius hätte ihm ein anderes Gesicht gegeben. Vielleicht wäre es dann das Porträt eines Hochstaplers und nicht die stark eingefangene Geschichte eines Systemversagens gewesen. Eines Systemversagens, das in Zeiten der "Fake News"-Vorwürfe durchaus zur Destabilisation von Demokratie und Pressefreiheit beitrug. Der Film läuft ab 24. März, 20.15 Uhr, bei Sky Documentaries und auf Abruf.

Unter den "Spiegel"-Reportagen, die der heute 37-jährige Claas Relotius gefälscht haben soll, befinden sich preisgekrönte, große Geschichten beispielsweise über die Todesstrafe in den USA, Grenzwächter-Milizen an der Grenze Amerikas zu Mexiko, die Anfänge des syrischen Bürgerkriegs oder das Psychogramm einer US-Kleinstadt, das dazu beitragen sollte, das Amerika Donald Trumps zu verstehen. Tolle Geschichten waren das, die sich lesen wie Reportage-Literatur, die jedoch so nicht wahr gewesen sind.

Daniel Puntas, "Chefredakteur Reportagen Magazin" beim "Spiegel" und früher Relotius-Förderer, formuliert es am Anfang des Films so: "Ich denke, ein guter Reporter sieht Dinge, die Sie und ich auch sehen, aber er sieht sie im Kontext von etwas. Er sieht mehr als wir sehen." Das Problem war jedoch: Relotius sah eben auch all das, was wir gerne lesen und glauben wollen. Diese Interpretation des "Falles Relotius" ist als Fazit in so manchem Interview mit "Spiegel"-Verantwortlichen wie dem Journalisten und Relotius-Aufklärer Juan Moreno, mit Medien-Experten wie Stefan Niggemeiner oder Journalismus-Preis-Jurorin Margrit Sprecher zu erkennen.

Abonniere unseren Newsletter und wir versprechen, deine Mailadresse nur dafür zu verwenden.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

Zu perfekt die eingefangenen Momente, zu "spielfilmhaft" die erlebten Szenen

Sehr viel später im Film erzählt Puntas dann über Claas Relotius: "Er hat sich ein halbes Jahr nach dem Skandal bei mir gemeldet, um sich zu entschuldigen. Wir sind zusammen spaziert durch einen Park, haben stundenlang geredet. "Wenn man Relotius Glauben schenke, so Puntas, "war es ein unbewusstes, sich selber therapierendes Heilen beim Schreiben". Es ist einer der wenigen Momente im Film, die eine Erklärung für Relotius' Hochstapelei suchen. Denn eigentlich geht es in dem spannenden Beitrag eher um die Frage, wie ein solcher Skandal passieren konnte - und wie er aufgedeckt wurde.

Der freie "Spiegel"-Autor Juan Moreno arbeitete teilweise mit Relotius zusammen, schöpfte Verdacht und deckte dessen Betrug, auf eigene Kosten und gegen zahlreiche Widerstände auf, wie er im Film erzählt. In der Doku sagt Moreno über den talentierten Kollegen Relotius: "Die Texte haben einen in den Arm genommen und bestätigt in dem, was man so dachte." Steffen Klusmann, "Spiegel"-Chefredakteur seit 2019, installiert also erst nach den Relotius-Enthüllungen, nennt das Ganze "ein Riesen-Systemversagen". Denn eigentlich hätte man schon viel früher darauf kommen können oder müssen, dass an den Bilderbuch-Reportagen des jungen blonden Genius irgendetwas nicht stimmen konnte. Zu perfekt waren die eingefangenen Momente, zu "spielfilmhaft" die erlebten Szenen.

Relotius gewann viermal den "Deutschen Reporterpreis"

Da wäre jene Geschichte "Die letzte Zeugin" über die angebliche Hinrichtungs-Touristin Gayle Gladdis, die in den USA die Vollstreckung von Todesurteilen verfolgt. Im mehr als 40.000 Zeichen langen "Spiegel"-Text strich Gabi Uhl von der "Initiative gegen Todesstrafe e.V." 40 Stellen an, die ihr falsch oder zumindest merkwürdig erschienen. Ihres Wissens gab es in den USA weder "neutrale Zeugen" bei Hinrichtungen noch ein "computergestütztes Verfahren" beim Vollzug der Todesstrafe, wie von Relotius beschrieben. Wie Uhl äußern sich im Film auch andere Menschen, die Relotius' Storys anzweifelten. Und doch war die Glaubwürdigkeit von Relotius aufgrund seiner "Verdienste" groß. Der junge Journalist hatte bis zu seinem "Auffliegen" immerhin viermal den "Deutschen Reporterpreis" (Rekord!) und 15 weitere Auszeichnungen gewonnen.

Doch wie kam Relotius durch die berühmte "Dokumentation", jene Abteilung beim "Spiegel", die jedes Wort und jeden Satz auf seinen Wahrheitsgehalt prüft? - Der Film macht deutlich, dass das nur schwer nachvollziehbar ist. Galten für den Star-Reporter nicht die üblichen Standards? Cordelia Freiwald, Leiterin "Dokumentation" beim "Spiegel", sagt sinngemäß, Relotius habe dort fast immer mit demselben Kollegen gearbeitet und jenen wohl so ein bisschen um den Finger gewickelt.

Juan Morenos Besuch bei einem Grenzwächter

Die wichtigste Anekdote rund um die Aufklärung des Relotius-Skandals ist der Besuch Juan Morenos beim eigenbrötlerischen Sicherheitswächter Tim Foley von der "Arizona Border Recon" im Südwesten der USA. In Relotius' Geschichte ist man gemeinsam durch die Berge im Grenzland zu Mexiko gestreift, und der Text deutet an, dass die Bürgerwehr Foleys auf Mexikaner geschossen oder sie gar erschossen haben könnte. Foley bekommt im Film Besuch von Juan Moreno, liest verwundert die "Spiegel"-Reportage durch und bestätigt vor der Kamera, dass er Relotius noch nie gesehen habe.

Dass Moreno mit seinen bereits zuvor geäußerten Zweifeln an Relotius' Fake-Storys bei "Spiegel"-Verantwortlichen zuvor auf Granit biss und stattdessen selbst keine Aufträge mehr erhielt, macht die Relotius-Affäre - laut Film - zu mehr als einer Einzeltäter-Story. Paul Milata, ein "Compliance Ermittler", kritisiert in "Erfundene Wahrheit - Die Relotius Affäre", dass nur drei Journalisten in der Aufklärungs-Kommission zum Fall saßen, von denen zwei dem "Spiegel" angehörten und sich offensichtlich in einem Interessen-Konflikt befanden. Das sei "weit entfernt von einem normalen Vorgehen".

"Reportagen müssen immer bombastischer, Schicksale immer ergreifender sein"

Doch wie erklärt der in hochwertiger Optik gefilmte und mit klugen Interviews prall gefüllte Film, dass Relotius Texte so geliebt wurden, dass kaum jemand ihren Wahrheitsgehalt anzweifelte? Margrit Sprecher, Jury-Mitglied beim Reporterpreis 2013 (Preisträger war Claas Relotius mit seinem Text "Der Mörder als Pfleger"), formuliert es so: "Reportagen müssen immer bombastischer sein, Schicksale immer ergreifender sein." Dieses Prinzip bediente Relotius offenbar so elegant und künstlerisch wertvoll wie kein Zweiter.

Am Ende erfährt man über Texttafeln, wie es mit den Protagonisten des Skandals, der den Qualitätsjournalismus nicht nur hierzulande, sondern durchaus auch weltweit in die Krise stürzte, weiterging: Relotius gab seine Preise zurück, oder sie wurden ihm aberkannt. Der "Spiegel" verzichtete auf eine Klage gegen Relotius. Nach Medienberichten soll Claas Relotius seit Anfang 2023 wieder einen neuen Job haben - als Texter bei einer berühmten Werbeagentur.

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL