05.12.2024 von SWYRL/Maximilian Haase
Brutale Morde, verschwundene Kinder und zwei Ermittler im Koma: In der Fortsetzung der prämierten ARD-Serie "Die Toten von Marnow" überschlagen sich die rätselhaften Ereignisse. Sechs neue Folgen zeigen vor düsterer mecklenburgischer Kulisse einen hochspannenden Neo-Noir-Thriller.
Thriller aus Deutschland? Lange schien das fast undenkbar. Bis die Krimination ihre Vorliebe für das düstere Genre entdeckte - und mit zahlreichen Formaten überzeugende Arbeit leistete. Ein besonders herausragender Vertreter war 2021 die TV-Miniserie "Die Toten von Marnow", mit der das Erste die Messlatte hoch legte. In dem hoch spannenden Achtteiler brillierten Petra Schmidt-Schaller und Sascha Alexander Geršak als unperfekte Ermittler, die auf der Jagd nach einem brutalen Serienmörder einen DDR-Pharmaskandal rund um Medikamentenversuche aufdeckten. Der Kriminalfall wurde zum handfesten historischen Thriller - und das herausragende Duo dafür als beste Darsteller mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Knapp vier Jahre später wird die Geschichte nun mit sechs neuen Folgen fortgesetzt: Auch in der zweiten Staffel "Finsteres Herz" geht es vor herrlicher mecklenburgischer Neo-Noir-Kulisse um brutale Morde und menschenverachtende Geschäfte.
Einiges macht Regisseur Andreas Herzog im zweiten Teil seiner Serie anders als im Vorgänger: Denn auch wenn Lona Mendt (Schmidt-Schaller) und Frank Elling (Geršak) als Ermittler abermals geheimnisvolle Machenschaften aufdecken und gleichzeitig mit ihren privaten Problemen zu kämpfen haben, stehen sie diesmal nicht allein im Fokus. Dass die zweite Staffel darüber hinaus ein weiteres Ermittlerduo begleitet, hat einen simplen wie brutalen Grund, der das Publikum gleich zum furiosen Beginn schockt: Bei einer Schießerei an einem Zeugenschutzhaus werden Mendt und Elling schwer verletzt und liegen fortan im Krankenhaus im Koma. Zahlreiche Menschen sterben in der überraschend actionreichen Szene ("ein Massaker"), die samt Maschinengewehrsalven und blutigem Schnee auch US-Krachern wie "Fargo" entnommen sein könnte. Hier kommen die Sonderermittler Maja Kaminski (Sabrina Amali) und Hagen Dudek (Bernhard Conrad) ins Spiel, die untersuchen sollen, wie es dazu kommen konnte.
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Zwei Zeitebenen
Von nun an erzählt "Finsteres Herz - Die Toten von Marnow" in zwei Zeitsträngen: Begleitet wird in Rückblicken einerseits das altbekannte Duo, das in einem rätselhaften Mordfall ermittelt, der erst zu einem bulgarischen Waisenmädchen namens Sarah (grandios talentiert: Greta Kasalo) und schließlich zu dessen Schutz ins Zeugenhaus führt. Warum die drei dorthin überhaupt fliehen mussten, was die zwölfjährige Zeugin gesehen hat und warum das Versteck von falschen Polizisten schließlich brutal enttarnt wurde, soll nun das neue Ermittlerduo herausfinden. Ebenso den Aufenthaltsort von Sarah, die nach dem Vorfall abermals verschwindet.
Der Kniff der Serie: Weil die Aufzeichnungen über die Ermittlungen von Mendt und Elling allesamt auf geheimnisvolle Weise gelöscht wurden, müssen Kaminski und Dudek mühsam aufrollen, auf welcher heißen Spur sich die Kollegen befanden. Wer wollte sie daran hindern, ihr nachzugehen? Auch wenn das eigentliche Thema diesmal schneller ans Licht kommt, als dies bei den DDR-Menschenversuchen in der ersten Staffel der Fall war, ist die Wahrheit wieder nur schwer zu schlucken: Es geht um vergrabene Leichen, um verschwundene und verkaufte Kinder, um brutalsten Menschenhandel und um Migranten, die wie Müll behandelt und entsorgt werden. Und um korrupte Staatsdiener: Nicht zuletzt umspinnt das Netz aus Geheimnissen auch die Polizei und Politik. Dass dabei auch der zwielichtige Sonderermittler Dudek alles andere als ein integrer Polizist zu sein scheint, macht die Sache nicht einfacher.
Unbehagliche Atmosphäre
Weil parallel die Vorgeschichte zu sehen ist, entfalten sich die tatsächlichen Geschehnisse auch für die Zuschauer auf zwei klug miteinander verwobenen Ebenen. Wer da nicht durcheinander kommen will, sollte "Die Toten von Marnow" nicht nebenher schauen - zu schnell springen die Handlungen der mitreißenden Geschichten hin und her, die sich immerhin in Tonalität und Stimmung unterscheiden. Gemein ist ihnen derweil eine allgemein unbehagliche Atmosphäre, die sich durch die Episoden zieht.
Wieder könnte man sich in einem dieser skandinavischen Filme wähnen, für die diverse "Nordic"-Labels erfunden wurden. Bedrohlich wirkt die weite Landschaft Mecklenburgs, die Kamera fliegt über tiefe Seen und dunkle Wälder. Eine gespenstische Szenerie, getaucht in trübes Licht und begleitet von atmosphärischer Musik. Mittendrin: Die beiden Ermittlerpaare, wie sie durch trostlose Gegenden stapfen, aus denen die Kälte des Landes und der Menschen spricht. Wie sie mit nordostdeutschen Waldbewohnern reden, die jeden US-Redneck erblassen ließen. Wie sie in dunklen Ecken Informanten treffen und verschwörerische Pläne aufdecken und schmieden. Wie sie versuchen, ob der schauerlichen Geschehnisse die Fassung zu wahren und sich vom Grauen nicht kaputtmachen zu lassen.
Gesprochen wird nicht viel
Spielte Staffel eins noch flirrender Sommerhitze, dringt der nordische Winter nun aus jeder Szene - während die Kamera im Kontrast dazu die in den Häusern herbeigesehnte Wärme - auch die menschliche - in Sepiatönen gekonnt in Szene setzt. Gesprochen wird nicht viel, geschossen umso mehr - immerhin befinden wir uns ja in einem Thriller in Norddeutschland. Viel sei es beim Dreh darum gegangen, "was man vor der Kamera alles nicht sagen muss, weil man es spielen kann", erinnert sich Darsteller Sascha Alexander Geršak. "Für mich ist das, was zwischen den Zeilen gesagt wird, oft wichtiger als der Text an sich", erklärt auch Regisseur Andreas Herzog.
Wie schon in der ersten Staffel nimmt das Privatleben der Ermittler viel Raum ein: Man sieht Elling, wie er nachdenklich am Abendbrottisch sitzt, wie er skeptisch den neuen Freund der Tochter mustert, wie er sich nebenher um seine Mutter (fantastisch tragikomisch: Christine Schorn) kümmert, deren fortschreitende Demenz ihm zusetzt. Seiner Kollegin Mendt hatte man indes besonders fürchterliche Schicksalsschläge ins Drehbuch geschrieben: Vor drei Jahren verlor sie ihre gesamte Familie bei einem Flugzeugabsturz - und sie wurde, als wäre sie nicht genug geschunden, in der ersten Staffel Opfer einer Vergewaltigung. Nun geht sie an Trauer und Hoffnungslosigkeit fast zugrunde und kann es mit Gedanken an ihre Kinder nur schwer zulassen, sich dem Waisenmädchen Sarah langsam anzunähern. Doch ist es nicht genau das, was sie braucht, um wieder Mensch zu werden?
"Das war für mich einfach unvorstellbar"
Vom Leben derart gebeutelt, dazu konfrontiert mit fürchterlichen Verbrechen an Kindern und einer Welt, in der Menschen als Ware betrachtet werden: Wer würde daran nicht verzweifeln? Nichts zeigt die hässliche Fratze der Menschheit so deutlich wie die widerlichen Praktiken der Kriminellen, die Elling und Mendt aufdecken. Diese Rollen so glaubhaft zu spielen, verlangt Respekt. Wie schon im prämierten ersten Teil liefern Petra Schmidt-Schaller und Sascha Alexander Geršak auch diesmal preisverdächtige Schauspielleistungen. Ihre Figuren sind nahbar und sympathisch trotz und wegen ihrer Abgründe, menschlich gerade aufgrund ihrer Makel und zerrissenen Biografien.
Leicht war der Dreh mit seinen bisweilen herausfordernden Szenen nicht, wie die Darsteller verraten: "Wenn ich ehrlich bin, seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind Actionszenen für mich anders belegt. Wenn die Maschinengewehre feuern, dann ist es mir - anders als früher - jedes Mal ins Mark geschossen", erklärt Petra Schmidt-Schaller etwa ihr Unbehagen hinsichtlich blutiger Schießereien im Skript. Sie sei in dieser Zeit "immer wieder von der Realität des Krieges eingeholt" worden und habe sich "mental für die Szenen wappnen" müssen.
Auf andere Weise trifft das auch auf die bewundernswerte Jungdarstellerin Greta Kasalo zu, die einige fast unerträgliche Parts spielen musste. Sich vorzustellen, wie ein obdachloses Waisenmädchen mit dieser Geschichte lebt, sei nicht einfach gewesen: "Das war für mich einfach unvorstellbar. Ich glaube aber, an Sarahs Stelle hätte ich mich in den meisten Situationen genauso verhalten wie sie."
Man merkt der Serie an, dass sich alle Beteiligten mit Leib und Seele hineinbegaben in jenes düstere Dickicht, in dem zwischen all der Menschenverachtung irgendwo die Hoffnung auf Menschlichkeit durchschimmert. In diesem Sinne besitzt auch die zweite Staffel "Die Toten von Marnow" alles, was ein gelungener Thriller braucht.