Trainer und SPORT1-Experte Peter Neururer im Interview

Peter Neururer und der Fußball: Von alter Liebe und neuer Geschäftemacherei

10.07.2022 von SWYRL/Kai-Oliver Derks

Fußballtrainer, SPORT1-Experte, Ehemann, Markenbotschafter, Harleyfahrer, Familienvater, Hobbygolfer - Peter Neururer ist vieles. Vor allem aber ein bemerkenswerter Mensch mit einer außergewöhnlichen Biografie.

Neururer war bereit. "Bereit für den großen Jubel. Bereit für die großen Einkäufe. Bereit dafür, diesen Verein auf Dauer in der ersten Bundesliga zu etablieren." Es war sein Moment. Peter Neururer war Ende 2001 zum VfL Bochum gekommen. Stationen wie Düsseldorf, Offenbach und Ahlen lagen hinter ihm. Die letzten Jahre - es waren keine für die Geschichtsbücher. Aber jetzt: Bochum. Auch ein Herzensverein für ihn. Weil eben - ein Club aus dem Pott.

"Ich bin auf Kohle geboren", lautet eine Parade-Antwort Neururers, die er in Interviews auf ganz verschiedene Fragen zu geben pflegt. Sein impulsives, ehrliches Wesen, seine Liebe zum Fußball, sein Gefühl für die Heimat. Alles wegen jener Kohle. Der echten, der aus der Erde, nicht der von der Bank. Die stand für den am 26. April 1955 in Marl geborenen Mann nie im Mittelpunkt. Dann kam der Tag, der 30. November 2004. Jeder echte Fußballfan, der, sagen wir, vor Deutschlands WM-Triumph in Rom 1990 geboren wurde, weiß, was an diesem Abend geschah. Es ist eines dieser Spiele, wie es sie im Leben eines Fans vielleicht nur einmal, besser aber nie gibt. Bayern-Fans kennen das aus Barcelona, Schalke-Fans aus Hamburg. Und Bochums Fans kennen es seitdem auch. Es ist dieses eine Spiel, das mehr bedeutet als alle anderen zuvor.

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"Wenn du in der Nachspielzeit an den Ball kommst, hau ihn weg über die Castroper Straße"

Die Jahre zuvor: Neururer hat Erfolg. Er führt die Bochumer aus der zweiten in die erste Liga, er hielt sie dort und brachte das Team um "Zaubermaus" Dariusz Wosz und den niederländischen Keeper Rein van Duijnhoven danach gar in den UEFA-Cup. Ein Fußballwunder, nicht weniger. Schluss mit dem ewigen Image der grauen Maus. Neururer hat das Team nicht nur besser gemacht. Er hat den Ruhrpott in ihm neu geweckt. Dem Fußball wieder Seele gegeben. Und er zog, so wie er es meistens bei seinen Vereinen tat, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich und nahm so den Druck von den Spielern.

Nachdem das Hinspiel bei Standard Lüttich 0:0 endete, war klar: Daheim im Ruhrstadion, mit 23.356 Zuschauern selbstverständlich ausverkauft, musste ein Sieg her. Dann würde sich die Tür in eine glorreiche Zukunft öffnen. Denn: Nach dieser ersten Runde wartet die neu geschaffene Gruppenphase auf den VfL, die dem Verein Millionen bringen würde. Und ohne diese Millionen, das war damals nicht anders als heute, würde es nicht lange gutgehen in der ersten Liga.

Es ist die 45. Minute: Bochum geht mit 1:0 in Führung. Marcel Maltritz mit dem Kopf. Dann Halbzeit. Neururer findet die richtigen Worte. Bochum macht gut weiter, ein zweites Tor will jedoch nicht gelingen. Der an diesem Tag indisponierte Schiedsrichter Kaznaferis verweigert den Bochumern einen Strafstoß. Dann, keine zehn Minuten mehr zu spielen, trifft Neururer eine Entscheidung.

Er bringt den Brasilianer Edu für Tommy Bechmann. Edus wichtigster Auftrag: "Wenn du in der Nachspielzeit an den Ball kommst, hau ihn weg über die Castroper Straße. Dann ist das Spiel zu Ende." Edu, eigentlich Eduardo Goncalves de Oliveira, wollte tun wie vom Chef geheißen. Ein "super Techniker" sei Edu eigentlich gewesen, erinnert sich Neururer, was im Pott mancher bis heute vor lauter Wut nicht unterschreiben würde.

Dann, es ist die 92. Minute, schlägt Conceicao eine erbärmlich schlechte Flanke von links in den Strafraum. Edu steht gut, holt aus und tritt in so skurriler Weise über den Ball, wie man es bis dahin eigentlich nur auf deutlich niederklassigeren Bolzplätzen gesehen hat. Der ebenfalls eingewechselte Jorge Winston Curbelo wartet direkt dahinter frei und zwirbelt das Leder aus zentraler Position unhaltbar für van Duijnhoven ins linke Eck. 1:1. Es galt die alte Auswärtstorregel. Bochum schied aus, ohne Niederlage. "Wenn wir die Gruppenphase erreichen, ist es endgültig keine Spinnerei mehr, dass wir dauerhaft in den oberen Regionen mitspielen", hatte Neururer gesagt. Stattdessen folgten Abstieg des Vereins, sein Rauswurf. "Es war einer der brutalsten Momente meiner Karriere."

Nach dem Herzinfarkt: Derselbe, und doch ein anderer

Die "Ohnmacht dieses Moments", an sie erinnert sich Neururer noch genau. Bilder belegen, wie er konsterniert auf der Bank verharrt. Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit. "Wenn das Spiel läuft", sagt er, "ist es vorbei mit deinem Einfluss. Es ist egal, ob du da als Trainer an der Linie rauf- und runterläufst oder ob du auf der Bank einschläfst." Der Coach - für den Bruchteil einer Sekunde nurmehr in Fortunas Hand.

Fast 20 Jahre ist das jetzt her. Auf einer Trainerbank saß Peter Neururer schon eine ganze Weile nicht mehr. Sein letztes Engagement, übrigens wieder beim VfL, liegt gut sieben Jahre zurück. Trainer wird er immer bleiben. Doch wer Neururer heute nach seinem Beruf fragt, bekommt die wunderbare Antwort: "Freizeitkünstler". "Ich tue das, was man mit Freude macht. Es geht um die glücklichen Momente." Golf gehört dazu. Das Interview mit ihm findet am Morgen nach einer Runde statt. Neururer ist zufrieden. Sein Handicap weiß er gar nicht mehr so genau. "Elf komma irgendwas." Nicht mehr so wichtig. Sein Herzinfarkt, der ihn vor ziemlich genau zehn Jahren, ebenfalls auf dem Golfplatz aus dem Nichts traf, hat ihn verändert. Im Bunker sackte er zusammen. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere. Und wieder in Fortunas Hand ...

Die Hilfe kam schnell an jenem 9. Juni 2012. Trotzdem: Er musste mehrfach wiederbelebt werden, lag im Koma, tagelang. Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob der Peter Neururer zurückkehren würde, den es vorher gab. Am Bett seine Frau, seine beiden Kinder. Dazu der Arzt, ein alter Bekannter der Familie. Nach Tagen wachte Neururer auf, blickte an sich herab und fragte: "Was soll der Mist denn hier, die ganzen Schläuche?" Neururer war zurück. Derselbe, und doch ein anderer.

"Meine Lebenseinstellung war immer positiv. Sie ist es geblieben, aber es hat sich vieles verändert. Ja, ich rege mich immer noch auf", sagt er, "aber nicht mehr über Sachen, die ich nicht beeinflussen kann". Noch heute ist er Cheftrainer des Proficamps der Vereinigung der Vertragsfußballspieler. Jener Spieler also, die derzeit ohne Arbeitgeber sind. Er macht das, "um was zurückzugeben". "Wenn früher da jemandem ein technischer Fehler passierte, hab' ich den zusammengenagelt. Heute würde ich das nie mehr tun."

Noch so ein Neururer-Wunder

Den zehnten Jahrestag seines Herzinfarkts hatte er eigentlich gar nicht mehr auf dem Schirm. Neururer war unterwegs auf einer Yacht, Stichwort "Freizeitkünstler". Schon am Morgen kamen unzählige SMS und What's App-Nachrichten - von Freunden und Weggefährten. Und dann brach ein Gewitter los, das die Yacht beinahe in Seenot brachte. Es ging alles gut, und doch war das wieder so ein Tag, der ihn an all das erinnerte, worum es am Ende im Leben geht.

Das sind: die Familie, Freunde, seine "Harleytruppe" und immer und überall - der Fußball. "Natürlich liebe ich ihn", sagt Neururer, der selbst Amateur-Oberliga spielte, sich aber bald dafür entschied, Trainer zu werden. Horst Hrubesch ebnete ihm damals den Weg, holte ihn 1987 zu Rot-Weiß Essen. Es folgte eine außergewöhnliche Karriere. Er bestritt als Trainer mehr als 600 Partien im bezahlten Fußball, führte mehrere Mannschaften zum Aufstieg. Doch die großen Titel waren ihm nicht vergönnt. Weil es eben nie zu einem Vertrag mit einem der ganz großen Vereine kam.

Zehn Spiele habe es in seiner Karriere vielleicht gegeben, die wirklich seiner Vorstellung entsprachen. Zehn, nicht mehr. "Ich hatte eben nie die Möglichkeit, meinen Gedanken entsprechend Fußball spielen zu lassen. Von der grundsätzlichen taktischen Ausrichtung her vielleicht, aber das Spielsystem bestimmen die Spieler, nicht der Trainer." Und weil Neururer eben nie die Allerbesten trainierte, keine Bayern, keine Dortmunder, waren seinen Erfolgen Grenzen gesetzt. Dazu kam: Immer wieder habe er nach einer guten Saison die Besten verkaufen müssen. 1992 stieg er mit dem 1. FC Saarbrücken in die Bundesliga auf. Noch so ein Neururer-Wunder. Sein Mittelstürmer Michael Preetz war Torschützenkönig in der zweiten Liga geworden. Und wurde danach natürlich des Geldes wegen abgegeben, wie andere auch. "Sechs Spieler durfte ich dann holen - für 120.000 Mark. So die Bundesliga halten? Das wäre Zauberei am Schlangenfluss."

"Ich habe alles erlebt. Ich bin rausgeflogen, bin beurlaubt worden trotz großen Erfolges, ich habe Verträge verlängert, Verträge wurden nicht verlängert. Ich bin selbst zurückgetreten." Ja, manches bereue er. "Bei dem einen oder anderen Verein hätte ich mit meiner Erfahrung von heute nie unterschrieben. Aber mit der Entscheidung, Trainer sein zu wollen und sein Leben dem Ball zu widmen, habe er nie gehadert.

Bei ihm wird ein Steilpass gespielt. Nichts Vertikales, nichts Gestecktes.

Mit dem Fußball selbst aber schon. Es genügt ein Stichwort und Neururer sprudelt. VAR, Trainerausbildung. Oder das Thema Verträge: "Früher wurden die gemacht, um eingehalten zu werden. Heute werden sie verlängert, um Ablösesummen zu generieren." Dass Trainer sich Ablösen in ihren Verträgen festschreiben lassen, macht ihn wütend. "Ich bin derzeit Sportvorstand beim Wuppertaler SV, und wir haben das Trainer-Thema aktuell nicht. Aber wenn mit mir jemand als Trainer verhandeln würde, und er würde eine Ausstiegsklausel fordern, bekäme er von mir gleich die Klausel zum Ausstieg durch meine Bürotür." Es sei, sagt er, "einfach nur traurig geworden".

Ob erste oder zweite Liga - "es ist nur noch Geschäftemacherei. Natürlich, was wir alle da auf dem Platz sehen - das ist Fußball. Aber alles drum herum hat mit Fußball nichts mehr zu tun." Der Amateurbereich, der schlicht übersehen werde. Die Ausrichtung des Profisports auf die Interessen der TV-Sender. Spieler, die behaupten, "den nächsten Schritt" gehen zu wollen und in Wahrheit nur ans Geld denken. Neururer redet, wenn es um die Entwicklung des Fußballs geht, ohne Punkt und Komma. Es ist zu spüren, wie er trauert um die Werte von einst. Wie er Sorge hat, dass der Fußball darüber am Ende sein Wichtigstes verliert: die Fans.

Wie viel dieser Mann aus dem Pott am Ende dann doch richtig gemacht hat, erfährt er inzwischen im Umgang mit eben jenen Fans. Wenn er am Sonntag wieder einmal, selten genug, im "Stahlwerk Doppelpass" bei SPORT1 sitzt, bekommt niemand so viel Beifall wie er. "Da sitzen eben Traditionalisten im Publikum", lächelt er. Was bedeutet: Menschen, die das Erdige am Fußball lieben. Die sich mit Neuerungen schwertun. Und vor allem hadern sie mit dem bürokratisch-aristokratischen Fußballersprech der modernen Zeit. "Bei mir wird ein Steilpass gespielt", sagt Neururer. Nichts Vertikales, nichts Gestecktes.

"Vergessen Sie nicht: auf Kohle geboren ..."

Auch in der neuen Saison gehört Peter Neururer weiter mit zum Stamm der SPORT1-Experten. Ob beim "Fantalk" zur Champions League oder bei den Samstagabendspielen der zweiten Liga. Der 67-Jährige ist steter Gast und weiß dabei, worauf es ankommt. Ein "Experte" sei eben nicht nur ob seiner Expertise gefragt. "Er ist für eine gute Einschaltquote mit verantwortlich." Prominente Fachleute der Privatsender - Matthäus, Hamann, Effenberg oder eben auch Neururer - sorgen mit ihren Aussagen bewusst für PR-trächtige Schlagzeilen. Neururer weiß das und gibt das, anders als andere, auch freimütig zu.

Wünschen würde er sich indes, dass Gespräche über Fußball wieder vermehrt zu solchen werden. "Es wird nicht mehr über die Entwicklung des Fußballs geredet, sondern über die Entwicklung des Geschäfts", sagt er und meint: Ein bisschen mehr Diskussion über das, was auf dem Rasen geschieht, statt über das Geschäftsgebaren der Vereine täte gut.

Die kindliche, die naive Liebe, die nicht nur im Pott so viele Menschen dem Fußball ihr Leben lang entgegenbringen, die gibt es schon lange nicht mehr bei ihm. "Ich habe zu viele Dinge in all den Jahren mitbekommen." Vieles sei eben anders geworden, habe mit dem Sport von einst nicht mehr viel zu tun. "Und trotzdem will ich den Fußball lieben. Ich versuche an dem krampfhaft festzuhalten, was ich lieben gelernt habe." Wirklich, Neururer? Kein Gedanke daran, das alles eines Tages hinter sich zu lassen? Weg vom Fernsehen, raus aus den Stadien, den Ball einfach rund sein lassen? Ein Leben ohne Fußball? "Nein, niemals. Ich bin mit Fußball groß geworden, er war immer mein Lebensinhalt. Vergessen Sie nicht: auf Kohle geboren ..."

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