05.12.2021 von SWYRL/Christina Raftery
Von "Notruf Hafenkante" zum "Herzkino": Schauspielerin Aybi Era (31) über Wandel und übers Weichbleiben - auch in harten Momenten an der Supermarktkasse.
Ihre abgeschlossene Ausbildung als Kauffrau im Einzelhandel legte Aybi Era schnell ad acta und schrieb sich auf der Hamburger Schauspielschule ein: nicht nur ein glücklicher Schritt für sie, sondern auch für das TV-Publikum. Nach über drei Jahren als Polizistin Pinar Arslan in "Notruf Hafenkante" bleibt sie dem ZDF treu, wechselt jetzt aber deutlich die Tonlage. Als Hamburger Spitzenköchin reist sie im "Herzkino"-Film "Alice im Weihnachtsland" (Sonntag, 12. Dezember, 20.15 Uhr; auch in der ZDF-Mediathek) unter anderem an der Seite von Ilja Richter, Nina Petri und August Schmölzer in die oberbayerische Heimat ihres Freundes - und erlebt dort im wahrsten Sinne des Wortes eine "schöne Bescherung".
teleschau: Viele Filmschaffende blicken mit gemischten Gefühlen auf 2021 zurück. Bei Ihnen standen die Zeichen allerdings nicht auf Stillstand, sondern Neustart: Nach über drei Jahren sind Sie aus Ihrer Hauptrolle in "Notruf Hafenkante" ausgestiegen. Wie hat Sie dieses Jahr sonst geprägt?
Aybi Era: Auch bei mir hat Corona eine große Rolle gespielt. Dabei haben die äußeren Umstände stark auf meine innere Welt gewirkt: Mein Motor ist richtig angelaufen, und ich spürte den großen Wunsch, andere Geschichten erzählen zu können. Ich bin ja direkt nach der Schauspielschule zu "Notruf Hafenkante" gekommen - ein großes Glück, aber auch ein krasses Pensum, das keine Zeit für andere Rollen ließ. Das ließ mich neue Prioritäten setzen und checken: Was und wohin will ich? Und welche Entscheidung muss ich dafür treffen?
teleschau: Die Hauptrolle in einer etablierten Serie verspricht durchaus eine Art Sicherheit.
Era: Ich habe diesen Job allerdings nicht aus Sicherheitsgründen angefangen, da gibt es sicher zig andere. Stattdessen gehe ich mittlerweile immer nach meinen Bedürfnissen und Sehnsüchten und erlaube mir, total im Wandel sein zu dürfen. Wir Menschen sind ja Gewohnheitstiere, was Corona ganz schön durchgerüttelt hat. Da habe ich mich neu gefragt, worum es mir in der Branche eigentlich geht: Wohin will ich wachsen? Als ziemlich spiritueller Mensch kann ich viel mit dem Spruch anfangen, dass sich erst, wenn eine Tür zugeht, eine andere öffnen kann. Genau so kam es auch.
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"Aybi, bleib weich, bleib ruhig!"
teleschau: War Abschiedsschmerz damit verbunden?
Era: Nein, ich sehe das als Übungssache. Abschiede kann man trainieren. Mir geht es immer um die eigene Einstellung zu dem, was mir gerade passiert. Es war ja meine eigene Entscheidung. Ich bin dem Ganzen mit viel Liebe begegnet und hatte eine so schöne letzte Zeit bei "Notruf Hafenkante". Kein Schmerz also, sondern ein wundervolles Danke.
teleschau: Für die "Notruf Hafenkante" haben Sie Schießtrainings absolviert und sind auf Streife mitgefahren. Jetzt totaler Energiewechsel beim "Herzkino": Welchen inneren Schalter mussten Sie dazu umlegen?
Era: In den meisten Rollen geht es vor allem um menschliche Begegnung. Als Kommissarin ist die Grundhaltung dafür anders als bei der Privatperson der "Alice im Weihnachtsland". Da läuft alles auf der Gefühlsebene, einer ganz anderen, feineren Beziehungsachse. Hier galt es nicht, Tätern hinterherzujagen und zu schauen: Wer lügt hier gerade? Ich kann hier ein anderes Spektrum und mich verletzlicher und auf eine gewisse Weise nackt zeigen.
teleschau: Ihre Figur Alice kennzeichnet, dass sie, um nicht verletzt zu werden, emotionale Mauern um sich baut. Kennen Sie das auch von sich?
Era: Ich glaube, dass jeder Mensch Schutz- und Abwehrmechanismen hat und auch braucht. Mittlerweile habe ich gelernt, sofort zu merken, wenn ich in diesen Modus gehe und zu unterscheiden, wann es Sinn macht, meinen Senf zu einer Sache zu geben und wann nicht. Kürzlich hatte ich an der Supermarktkasse eine Begegnung mit einer Person, die mich regelrecht weggeschubst hat, um ihre Sachen aufs Band zu legen. Da habe ich gemerkt, dass etwas nicht mit meinem Wertesystem übereinstimmt, und mir gesagt: Aybi, bleib weich, bleib ruhig! Letzten Endes konnte ich damit meine Grenzen schützen. Es wäre sicher gut, Selbstbeobachtung als alltägliche Haltung zu begreifen.
" ... dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt!"
teleschau: Was gibt Ihnen Kraft für den Ausgleich, einerseits bei sich selbst zu bleiben und andererseits in den Rollen aufzugehen?
Era: Ich bin begeisterte Kampfsportlerin und lege Wert auf ständige Persönlichkeitsentwicklung: Bin ich festgefahren oder offen für Neues? Welche Schablonen kann ich ablegen, um meine Welt größer zu machen. Der berühmte "Tellerrand" sind ja die eigenen Grenzen, die es einerseits zu beschützen und andererseits zu erweitern gilt. In der ständigen Veränderung weich bleiben und die Selbstachtung erhalten: schon wieder ganz schön spirituell, oder? (lacht)
teleschau: Passt doch gut zur Weihnachtszeit! Setzen Sie an den Feiertagen eher auf Ihre "Herkunftsfamilie" oder wie im Film auf "Wahlverwandtschaft?"
Era: Heiligabend früher klassisch mit der "Herkunftsfamilie", mittlerweile mit der "Wahlverwandtschaft": Auch hier habe ich Wandel zugelassen. Am ersten und zweiten Feiertag geht es meist zu den Eltern, aber generell mache ich Wärme und Zusammenhalt nicht von Zeiträumen abhängig. Die Liebsten in die Arme schließen und dankbar sein, dass man zusammen ist, geht doch immer.
teleschau: Auf welche Weise geht Liebe für dich durch den Magen? Im Film schätzt die Köchin Alice den bayerischen Schweinebraten...
Era: Ein Zeichen für den Culture Clash zwischen Bayern und dem Norden! Zum Glück muss im Film nicht alles echt sein, denn ich selbst ernähre mich seit zwei Jahren vegan.
teleschau: Sorgt das am Weihnachtstisch für Skepsis?
Era: Das kann schon immer noch als Provokation aufgenommen werden, aber meine Familie nimmt mich so, wie ich bin. Sie interessieren sich sogar dafür, welche alternativen Bindemittel ich benutzte oder was ich wie ersetze. Trotz meiner türkischen Wurzeln gab es bei uns an Weihnachten immer Gans oder Ente, dazu viel Gemüse, was ich viel lieber mochte. Rosenkohl, Rotkraut, Blumenkohl: Auf das bin ich schon immer krass abgegangen. Gib mir Soße, gib mir Klöße, dazu gerne eine vegane Pilzrahmsoße - dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt!
"Müssen wir uns wirklich immer noch für unsere Hautfarbe und Haarstruktur rechtfertigen?"
teleschau: Haben Sie den Eindruck, dass auch die Filmwelt diverser wird? In "Alice im Wunderland" spielen Ihre türkischen Wurzeln keine Rolle.
Era: Ich sehe da eine positive Entwicklung, habe aber gleichzeitig den Eindruck, dass manchmal auch nur auf die Quotenpolitik geachtet wird. Lange spiegelten Film und Fernsehen mehrheitlich die weiße Gesellschaft, jetzt zeigt sich auch auf dem Bildschirm, dass die Realität diverser ist. Die Streamingdienste haben da sicher ihren Teil dazu beigetragen, im deutschen Fernsehen scheint mir der Umgang damit noch ein bisschen unbeholfen. Dabei wäre es doch wünschenswert, wenn Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Aussehens ins Casting kommen und ein Angebot für die Rolle machen. So, wie spielst du - ja, bitte! Dass wir "anders" sind als andere, wird aber noch lange in den Köpfen bleiben, schließlich sind wir alle mit solchen vermeintlichen Unterschieden aufgewachsen. Müssen wir uns wirklich immer noch für unsere Hautfarbe und Haarstruktur rechtfertigen?
teleschau: Warum lohnt es sich, trotz dieser Themen, Inzidenzen und Unsicherheiten eine vergleichsweise "leichte" Weihnachtskomödie anzusehen?
Era: Heute Morgen hätte ich keine Lust auf eine Liebeskomödie gehabt, sondern erst mal Kaffee und Lesen. Heute Abend kann das ganz anders sein. Beste Stimmung, schlechte Laune, Regenwetter, Sonnenschein, wir haben so viele Facetten. Deshalb gibt es für alles eine richtige Zeit.