30.03.2024 von SWYRL/Eric Leimann
Seit 2017 gibt es die medizinhistorische Serie "Charité". Pro Staffel wird eine Epoche an der Berliner Klinik erzählt. Staffel vier springt 25 Jahre in die Zukunft. Welche Krankheiten peinigen uns dann und wie werden wir sie behandeln? ARTE zeigt alle sechs Folgen der ARD-Serie vorab und am Stück.
2017 gelang der ARD mit der Miniserie "Charité" ein Coup. Unter der Regie von Sönke Wortmann und nach einem Drehbuch von Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön reiste die Serie an die Berliner Charité des Dreikaiserjahres 1888. Die Erzählung verband Biografien berühmter Forscher, die damals an der Klinik arbeiteten: Rudolph Virchow, Emil Behring, Paul Ehrlich und Robert Koch. Und natürlich wurde im Sinne des Quotenerfolgs auch die fiktive Geschichte einer mittellosen jungen Frau (Alicia von Rittberg) eingebaut, die am Krankenhaus "against all odds" Karriere machte. 6,6 bis sensationelle 8,3 Millionen Zuschauer schalteten ein - seitdem wird weitererzählt. Dies allerdings auf ungewöhnliche Weise, denn jede neue Charité-Staffel spielt mit neuem Personal in einer neuen Zeit. Mit der vierten "Charité"-Staffel ist man nun im Jahr 2049 - der Zukunft - angekommen. Wie Medizin und Krankenhäuser in 25 Jahren aussehen könnten, zeigt Staffel vier in sechs Folgen und über viereinhalb Stunden (bis 1.15 Uhr) am Stück, bevor ab 9. April das Erste mit Doppelfolgen am Dienstag, um 20.15 Uhr, nachzieht.
Nach Staffel zwei (2. Weltkrieg) und drei (Mauerbau) erzählt Runde vier von der Spitzenforscherin Maral Safadi (Sesede Terziyan). Mit ihrer Frau, der Gynäkologin Julia Kowalczyk (Angelina Häntsch), ist sie gerade aus den USA an die Charité zurückgekehrt. Dort übernimmt Maral die Leitung des Instituts für Mikrobiologie. Dort wird sie gleich mit dem Fall eines mysteriösen neuen Erregers konfrontiert, den sich ein Taucher in der Nordsee eingefangen hat. Aus den Niederlanden wird von weiteren Fällen berichtet. Droht eine Pandemie - oder ist ein neu entdecktes Bakterium gar der Schlüssel in eine bessere Zukunft?
An jener forscht auch Dr. Ferhat Williamson (Timur Isik). Er leitet als Teilnehmer ein Virtual Reality-Experiment mit Locked-In Patienten. Doch man droht ihm die Forschungsgelder zu streichen, wie überhaupt das gesundheitspolitische Klima im völlig überhitzten, eben Klima-geschädigten Berlin 2049 rau geworden ist. Vor den Kliniktüren wüten Demonstranten: Eine Gesundheitsreform will für jeden Menschen einen "Scorewert" mit Daten über dessen Gesundheit und Lebenserwartung erheben. Dieser soll zur Grundlage der Behandlung werden. Ob es tatsächlich noch 25 Jahre dauert, bis so etwas kommt, denkt man sich?
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Medizinische Zukunftsvision trifft "Soap"
Die Charité-Zukunft ist weiblich und liegt in Portugal. Dort nämlich fanden die Macherinnen der Anthologie-Serie um Regisseurin Esther Bialas jenen futuristischen Gebäudekomplex, der die Charité von morgen darstellen soll. Tatsächlich ein weit fortgeschrittener Klinikbau, in dem praktischerweise Dreharbeiten stattfinden konnten, kurz bevor dort der Klinikbetrieb losging. Die neue Charité-Staffel weist - wie ihre Vorgänger - Stärken und Schwächen auf: Zu ersteren gehört eine wissenschaftliche, akribische Recherche und Fachberatung der Autorinnen (Tanja Bubbel, Rebecca Martin) durch Fachleute. Die Themen, an denen die Medizin arbeitet, Probleme, die neu auf uns zukommen sowie Lösungen und Entwicklungen der Zukunft - für all das entwickelt die Serie interessante Szenarien. Etwas flacher im Sinne von "soapig" fällt hingegen das Zwischenmenschliche aus.
Ob es um die Konflikte zwischen Maral und ihrer Mutter (Adriana Altaras) geht, einer "Old School"-Ärztin und Reformgegnerin, den Machtkampf mit einem konservativen Kollegen und Befürworter herkömmlicher Heilmethoden (Moritz Führmann) oder Beziehungsknatsch mit Partnerin und Sohn, der kämpfen und einer Schutztruppe für die Demokratie beitreten will: Alles, was hier an Beziehungsarbeit "geleistet" wird, setzt man offensichtlich exemplarisch zum Erklären einer neuen Zeit ein.
Da gibt es die Ehe zu dritt, in der die Ehefrau und der Ehemann eines Schwerkranken über dessen Behandlung entscheiden müssen. Oder auch einen Gesundheitsminister, der plötzlich ein neues Herz benötigt. Wer über solche didaktischen Stilmittel der Erzählung hinwegsehen kann, dürfte aus dem Blick in die Zukunft durchaus einige Gedanken und Einsichten mitnehmen. Und wer Science Fiction im Ersten zur Primetime unter der Woche verkaufen will, muss wahrscheinlich derart "klar" erzählen und die Probleme konkret beim Namen nennen. Sonst würde nur eine "subtile", Genre-affine Minderheit der inhaltlich wohl ziemlich realistischen, kritischen, aber und auch keineswegs dystopischen Vision beiwohnen.
Abgeschlossen ist "Charité" nach Ansicht der Produzenten mit der Reise in die Zukunft übrigens nicht zwangsläufig, wie auf einer Pressekonferenz zur Event-Serie verraten wurde. Man lässt es offen, ob der Weg hier endet oder ob man vielleicht auch wieder in die Vergangenheit oder eine noch weiter entfernte Zukunft reist. Sollten genügend Menschen einschalten oder streamen, wird man wohl eine Lösung finden.