25.12.2022 von SWYRL/Martina Maier
Eine Soldatin als Ersatzmutter? Und das in ihrem Heimatort, wo jeder vorgibt, etwas zu sein, was er gar nicht ist? Franziska Hartmann brilliert im ZDF-Sechsteiler "Neuland".
Als die beiden Kinder am Morgen aufwachen, ist die Mutter weg. Und sie kommt auch nicht wieder. Anzeichen gibt es zunächst weder für ein Verbrechen, noch für einen geplanten Neuanfang ohne die Familie. Was ist mit Alexandra passiert? Um das herauszufinden, kommt die Schwester der Vermissten, Berufssoldatin Karen Holt (Franziska Hartmann), aus Mali zurück in das norddeutsche heimatliche Nest.
Dort gibt es ungeahnte Schwierigkeiten und viele Geheimnisse, die nicht gelüftet werden wollen. Karens Geschichte wird im großartig besetzten Sechsteiler "Neuland" erzählt, der vier starke Protagonistinnen ins Auge des Orkans stellt. Die Miniserie, die im Herbst bereits in die Mediathek gestellt wurde, wird nun mit jeweils drei hintereinander gezeigten Folgen erstmalig linear im ZDF ausgestrahlt.
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Ein Gesellschaftsdrama, eingebettet in einen Vermisstenfall
Die Wiedersehensfreude hält sich in Grenzen, als Karen, wortkarg, spröde und auf den ersten Blick nicht gerade ein Herzensöffner, in Uniform im heimatlichen Sünnfleth auftaucht. Mit ihrer militärisch-burschikosen Art schafft sie sich schnell Feinde, und auch aus ihrer Vergangenheit gibt es noch Bekannte, deren Vorbehalte auf Gegenseitigkeit beruhen. Da ist zum einen der Buchhändler Christian Grawert (André M. Hennicke), der späte Lebensgefährte von Karens und Alexanders Vater, dem die Soldatin mit größter Abneigung begegnet.
Auch mit ihrem Ex-Freund Marek (Lucas Prisor) ist Karen überkreuz, denn er weiß nicht, warum Karen ihn einst verlassen hatte. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen jedoch zunächst einmal die beiden Töchter der Vermissten. Sie sind vollkommen desorientiert und suchen bei der Tante vergebens nach Halt, während diese lieber heute als morgen zurück nach Mali möchte, denn in ihrer Rolle als Soldatin fühlt sie sich wesentlich wohler als in der der Ersatzmutter.
Bei der Betreuung der beiden Schulkinder stellt Drehbuchautor Orkun Ertener ("Tatort") der Soldatin Alexandras beste Freundinnen zur Seite: Sarah (Mina Tander), eine privilegierte Frau der Extreme, und Marie (Peri Baumeister), die innerlich stark ist und doch ungeheuer zerbrechlich wirkt. Auch diese beiden Damen sind in Geheimnisse und Halbwahrheiten verstrickt. Hat Alexandra ihnen etwas anvertraut?
Als Vierte im Bunde gibt es noch Anke (Anneke Kim Sarnau), Vorstandsvorsitzende eines Medienkonzerns, die um ihren Ruf als perfekte Mutter fürchtet und sich nach einer Schulhofschlägerei mit Karen anlegt ... Diese weiß nicht, wo sie anfangen soll, nach Spuren zu suchen, und misstraut allem und jedem. Aus gutem Grund, wie dieses raffinierte und gut gespielte Gesellschaftsdrama zeigt, das viel mehr psychologische Studie als Kriminalfilm ist.
Schadet der Gesellschaft der neue Hang zur Perfektion?
Inszeniert wurde das komplett in Hamburg gedrehte "Neuland", das ein ganz klein wenig an die guten alten ZDF-Weihnachtssechsteiler erinnert, von Jens Wischnewski ("Gefährliche Wahrheit"), mit der Hauptdarstellerin Franziska Hartmann zuletzt an einem "Polizeiruf"-Krimi gearbeitet hat. Von der Tiefe der gezeigten Figuren sei er sofort angetan gewesen, erzählt der Regisseur, und es stimmt: Jede der vier Frauen im Mittelpunkt des Geschehens hat ungeahnte Facetten, die erst nach und nach entblättert werden und die Spannung über sechs Folgen am Laufen halten.
Franziska Hartmann, die Karen als "herrlich unangepasst, beeindruckend und herzerwärmend" beschreibt, nahm am Casting während der Pandemie von den Kanaren aus teil und freute sich über den Zuschlag, denn "ich mochte diese Figur von Anfang an unglaublich gerne". So gelingt es ihr, Karen mit einer Ambivalenz darzustellen, die in Erinnerung bleibt.
Für Autor Orkun Ertener waren vor allem die Fragen entscheidend, wie sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat, welche neuen Rollenbilder entstanden sind und was der immer stärker werdende Drang zur Perfektion gerade auch unter den wachenden Augen der Social Media für Auswirkungen hat. "Fehler zu machen, wird schwieriger", resümiert er. Mit viel Sorgfalt zeichnet er die Beweggründe seiner Figuren nach, ohne die Personen an den Pranger zu stellen. So tauchen immer neue Aspekte auf, die nicht weniger spannend sind als die zentrale Frage: Wo ist Alexandra? Anregendes Fernsehen, das perfekt in die Zeit passt.