09.06.2024 von SWYRL/Julian Weinberger
Einsamkeit, soziale Isoliertheit, Angst vor den Konsequenzen eines Coming-outs: Motive wie diese vereinen die Protagonisten, die in "Das letzte Tabu" ihre Geschichten schildern. Der aufrüttelnde Film über Homosexualität im Fußball hallt noch lange nach.
Sieben von 500.000: Das ist - das sehen selbst Mathe-Verweigerer sofort - ein verschwindend geringer Prozentsatz. Diese Zahl, also 0,001 Prozent, entspricht dem Anteil offen schwul lebender Profi-Fußballer. Homosexualität im Kicker-Kosmos ist noch immer ein totgeschwiegenes Tabuthema. Umso wichtiger scheinen Dokumentarfilme wie "Das letzte Tabu", der nach der Streamingpremiere bei Amazon nun im Zweiten zu sehen ist und das wichtige Thema damit kurz vor Beginn der Heim-EM zur Primetime in den Fokus rückt. Für den schockierenden, aufrüttelnden und trotzdem mutmachenden Film haben sich mit Manfred Oldenburg ("Kroos") und Leopold Hoesch ("Schwarze Adler") zwei echte Sportfilm-Experten zusammengetan.
"Ich hatte im Kopf, ich werde Fußball-Weltstar": Marcus Urban blickt auf seinen raschen Aufstieg im DDR-Fußball zurück. Doch schon während seiner Zeit in der Kaderschmiede gehören homophobe Beschimpfungen zum guten Ton auf dem grünen Rasen. "Ich habe mir erotische Fantasien mit Männern verboten", erinnert sich Urban an die Angst, den psychischen Druck. Noch heute kämpft der 53-Jährige mit den Tränen, wenn er von der Beerdigung seines Lebenstraums spricht.
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"Ich bin der zweite Geoutete, aber der erste Überlebende"
Entscheidend dafür sei aber nicht die Leistung auf dem Platz gewesen, sondern die große psychische Belastung wegen des Versteckspiels, das seine sexuelle Orientierung mit sich brachte. "Dadurch, dass Liebe und Zugang zu Sexualität, körperlicher Nähe abgeschnitten war, war ich in mir zerschnitten und zerrissen", beschreibt Marcus Urban seine Gefühlswelt in der Rückschau. Das habe sich in einer gefährlichen Abwärtsspirale manifestiert: "Überall wo ich war, traten plötzlich Suizidgedanken auf." Auch deshalb, um die Einsamkeit, den psychischen Stress ("Ich war persönlich und gesundheitlich am Ende") hinter sich zu lassen, entschied sich Urban "für das Leben" - und gegen den Fußball.
Umso mehr traf den einstigen DDR-Hoffnungsträger die Erkenntnis: "Ich bin der zweite Geoutete, aber der erste Überlebende. Das klingt krass." Damit spielt Urban auf Justin Fashanu an, der sein Coming-out nicht überlebte. 1990 beendete er als erster Fußballer überhaupt sein Versteckspiel. "Homophobie war wie ein Mühlstein um seinen Hals", erklärt Menschenrechtsaktivist Peter Tatchell, der einige Jahre mit dem englischen Fußballer liiert war. Fashanus Trainer bei Nottingham, Brian Clough, ein waschechter Schwulenhasser, hatte Fashanu zuvor wahlweise als "verdammte Schwuchtel" beschimpft oder von der Polizei vom Trainingsgelände führen lassen.
Kultreporter Töpperwien kanzelt DFB wegen One-Love-Posse ab: "Hochnotpeinlich"
Den erhofften Befreiungsschlag brachte Fashanu sein Coming-out nicht. Das Fanlager bedachte ihn laut Tatchell größtenteils mit "Feindseligkeit und Verachtung". Sein eigener Bruder hatte ihm sogar viel Geld geboten, um ihn von der Offenlegung seiner sexuellen Identität abzubringen. Die heftigen Reaktionen und die Ausgrenzung in der eigenen Familie stauten sich bei Justin Fashanu so lange an, bis er keinen Ausweg mehr sah - und sich am 2. Mai 1998 in einer Londoner Garage erhängte. Seine Nichte Amal stellt im Dokumentarfilm fest: "Er war es leid, seine Familie zu verletzen. Er war es leid, von der Presse gejagt zu werden."
Über 25 Jahre später hat sich zwar das gesellschaftliche Klima geändert, in den Stadien und vor allem in den Verbänden mangelt es aber noch immer am energischen Kampf gegen Stereotype und Diskriminierung, wie "Das letzte Tabu" zeigt. "Mangelhaft" sei der Kampf des DFB gegen Schwulenfeindlichkeit, urteilt Sportwissenschaftlerin Tanja Walther-Ahrens: "Das ist so inhaltsleer, nicht gelebt." Auch Ex-Schiedsrichter Babak Rafati kritisiert, bei Verbänden werde oft alles durch die "rosarote Brille" gesehen, und man wolle das "Produkt Bundesliga nicht schädigen".
Noch immer sei eine zentrale Erkenntnis nicht in den Köpfen angekommen, findet auch Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, der sich 2014 kurz nach seinem Karriereende outete: "Homosexualität hat nichts mit Schwäche, mit Leiden zu tun. Man kann das auch sehr selbstbewusst transportieren." Umso enttäuschender sei es gewesen, dass die FIFA 2022 mit Katar einen WM-Ausrichter bestimmte, der Homosexualität unter Strafe stellt. "Die WM-Vergabe an Katar hat klargemacht, worum es beim Fußball geht: Geld." Noch dazu sei das Gebaren des DFB um die One-Love-Armbinde laut Kult-Reporter Rolf Töpperwien "hochnotpeinlich" gewesen. Er habe sich für die "Witznummer geschämt".
"Man wird staunen, wie viele homosexuelle Fußballer in der Bundesliga tatsächlich sind"
Doch trotz bisweilen erschütternder Berichte und dem zögerlichen Verhalten der Verbände schafft "Das letzte Tabu" Sichtbarkeit für ein Tabu, das hoffentlich bald keines mehr ist. Der 90-Minüter erzählt nämlich auch Geschichten, die Optimismus verströmen. Der tschechische Nationalspieler Jakub Jankto bekannte sich 2023 öffentlich zu seiner Homosexualität. Vor einem brisanten Derby in der tschechischen Liga ergriff die Polizei aus Angst vor Verleumdungen von den Fanrängen erhöhte Sicherheitsmaßnahmen - nur, um am Ende festzustellen, dass die Einwechslung Janktos keinerlei besondere Reaktionen nach sich zog.
Spieler wie Jankto oder der US-Amerikaner Collin Martin, der sich 2018 outete, gelten als Hoffnungsträger und Vorbilder innerhalb der Fußballblase. "Man wird staunen, wie viele homosexuelle Fußballer in der Bundesliga tatsächlich sind", sagt Babak Rafati in "Das letzte Tabu". Er selbst habe mit Spielern zu tun, die berichten, es sei "Normalität, dass du drei, vier Spieler im Kader hast". Bleibt zu hoffen, dass es bald auch normal sein kann, dass diese Sportler offen zu ihrer sexuellen Präferenz stehen können.