ARD Dokumentarfilm: Ernstfall - Regieren am Limit

Wie regiert es sich in Zeiten von Krieg und Krise? Doku begleitet Baerbock und Co. hautnah

11.09.2023 von SWYRL/Maximilian Haase

Seit Beginn des Ukrainekriegs folgt Krise auf Krise: Wie regiert es sich in diesen Zeiten? Die ARD-Doku "Ernstfall" hat Kanzler Olaf Scholz, Annalena Baerbock und weitere Vertreter der Ampelkoalition fast zwei Jahre begleitet - und liefert einen aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen.

Wohl keine deutsche Regierung zuvor fand sich kurz nach Amtsantritt in einer derartigen Ausnahmesituation: Kaum zwei Monate waren Olaf Scholz und seine Ampelkoalition an der Macht, da überfiel Russland Ende Februar 2022 die Ukraine und brach mitten in Europa einen Krieg vom Zaun. Seither vernimmt man allerorten nur ein Wort: Krise, Krise, Krise. Und plötzlich standen für die frischgebackene Regierung, die sich so viel vorgenommen hatte, ganz andere Fragen im Zentrum: Wie geht man mit der drängenden Energiesicherheit um? Wie behält man die Inflation unter Kontrolle und navigiert gleichzeitig durch die Klimakrise? Ein enormer politischer Druck, dessen Auswirkungen auf die Protagonisten man nur erahnen kann. Der ARD-Dokumentarfilm "Ernstfall" (Montag, 11. September, 20.15 Uhr, verfügbar auch in der ARD Mediathek) versucht nun dieses "Regieren am Limit", so der Untertitel, in seinen zahlreichen Facetten zu dokumentieren.

Filmemacher, Journalist und Autor Stephan Lamby hat das bildgewaltige Material, um diesen außergewöhnlichen Einblick zu ermöglichen: Seit Regierungsbeginn im Dezember 2021 begleitete er mit der Kamera die wichtigsten Akteure der Ampelkoalition - nicht ahnend natürlich, dass er damit hautnah eine der größten Krisen im Nachkriegseuropa begleiten können würde. Dieses Journalisten-"Glück", wie man es vielleicht nennen darf, trifft in "Ernstfall" auf das Können eines vielfach prämierten Dokumentarfilmers, der von Castro über Kissinger bis Merkel und Trump bereits nationale und internationale Politik-Größen eindrucksvoll porträtierte. In seinem neuen Film, der in Berlin vor Journalisten in Anwesenheit von Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und ARD-Hauptstadstudioleiterin Tina Hassel seine Premiere feierte, stehen nun abermals die politischen Köpfe im Mittelpunkt.

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Die stilleren Momente

Und doch geht es in "Ernstfall" nicht nur um das Ausleuchten der Persönlichkeiten hinter den Figuren der Macht, sondern um nicht weniger als die zugleich weltpolitische wie intime Dokumentation historischer Monate. Wir sehen Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und andere zentrale Personen der Regierung, geschockt vom Krieg, ringend um Lösungen, bisweilen erschöpft von der Wucht der Ereignisse. Begleitet werden sie nicht nur auf der Bühne internationaler Staatsbesuche, sondern auch während der stilleren Momente - etwa bei internen Beratungen. Dem Publikum wird ein seltener Einblick in die Abläufe und Diskussionen gewährt, die sonst hinter verschlossenen Türen bleiben.

Und: Noch nie sah man Scholz und Co. so überraschend offen in Gesprächen mit Filmemacher Stephan Lamby auch über ihre Emotionen, Motive und Befürchtungen reden. Die Gefühle hinter der Politik, die Sorgen hinter der Macht: Der Kriegsfall legt offen, was zuvor kaum - oder nur in Ausnahmeformaten wie "Kevin Kühnert und die SPD" oder "Angela Merkel - Im Lauf der Zeit" - für Publikum und damit die Wählerschaft sichtbar war.

So sieht man Annalena Baerbock, wie sie innerhalb von Tagen mehrere Staatsbesuche absolviert - und dem Filmemacher noch im Flieger und in bequemerer Kleidung ein Interview zur Sicht auf ihre Person gibt: "Das tut weh", gesteht die Außenministerin, als es um Beleidigungen im Netz und bei Demonstrationen geht. Man sieht auch einen hadernden Robert Habeck, der im Zuge der Energiekrise gegen seine Überzeugungen die Kohlekraftwerke am Laufen hält: "Das ist Mist", sagt er zerknirscht zu den Sachzwängen, die der Krieg mit sich bringt.

Wischmopp und Dinosaurier

Ob die Geheimdienste ihn über die nahende Invasion der Russen informiert hätten, fragt Lamby den Wirtschaftsminister an anderer Stelle: Jene aus den USA und Großbritannien schon - andere hätten die Lage eher anders eingeschätzt. Ob er damit den deutschen Geheimdienst meine? "Ja", antwortet der Minister nach einer typisch Habeck'schen Zögerpause.

Dann wiederum ist der andere Habeck zu sehen - in Singapur bei den etwas banaleren Repräsentationsaufgaben der Regierenden: In einem grotesk anmutenden digitalen Dinosaurierpark imitiert er den Flügelschlag eines Flugsauriers. Kontraste wie dieser, zwischen Krieg und Alltag, machen den Reiz des Films aus.

So wird auch Christian Lindner dabei gefilmt, wie er beim Gang durchs Ministerium nebenher einen umgefallenen Wischmopp der Putzkräfte aufhebt. Was bei derlei Szenen - wie etwa auch bei den Ausschnitten aus nicht-öffentlichen Gesprächen - für die Kamera gesagt oder getan wurde, ist letztlich nur schwer einzuschätzen. So oder so: Deutlich wird im Film, wie die Dauerkrise die Ampelkoalition langsam aber sicher aufreibt.

"Wir haben viele Fehler gemacht", sagt Finanzminister Lindner an einer Stelle - während seine Koalitionspartner Baerbock und Habeck höchstens bemängeln, dass die Regierungsmitglieder zu einem früheren Zeitpunkt gemeinsam in die Ukraine hätten reisen sollen. Dass es in der Ampel brodelt, können auch die gegenteiligen Aussagen des Kanzlers im Film und des Kanzleramtsministers bei der Premiere nicht überdecken. Es herrsche ein "gereizter" Zustand, urteilt Filmemacher Lamby in Berlin.

Gereizte Stimmung

Wie gereizt die Stimmung wirklich ist, zeigte sich selbst bei der Premiere im Berliner Edelkino - jene Art von Anlass, bei dem normalerweise nette Gespräche und journalistischer Stolz auf das Geschaffene dominieren. Diesmal aber liegt eher ein Hauch von "Tagesthemen"-Interview oder Talkshow à la Lanz in der Luft: Tina Hassel nutzt die Gelegenheit, nicht nur den Filmemacher zu befragen, sondern sie lässt sich auch auf eine Diskussion mit Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt ein, dem sie mehrfach dankt, sich dem Gespräch "zu stellen". Gewohnt rhetorisch gewieft sagt Schmidt in seiner Funktion als regierender SPD-Politiker Dinge wie: " Selenskyj weiß, was er tut", "Putin hat sich verkalkuliert, uns auseinanderzutreiben" und: "Es ist kein Selbstzweck, möglichst harte Gesetze zu verabschieden, damit Stimmung in die Bude kommt".

Manchmal werde allerdings so getan, "als ob wir gar nichts gemacht hätten", übt Schmidt Medienkritik. Er dürfe nicht mal den Satz zu Ende sagen, dass man in der Koalition schon ein bisschen was erledigt habe - "weil Sie dann abschalten", kritisiert er gegenüber Hassel nicht ohne Augenzwinkern. "Wir Journalisten sind nicht so unterkomplex, wie man manchmal glaubt", entgegnet die ARD-Journalistin nicht minder humorvoll. Die große Politik auf der großen Medienbühne - hier zeigt sich, wie außergewöhnlich die weltpolitische Situation, in der die Regierung handeln muss, tatsächlich ist. Diskussionsbedarf herrscht allerorten, eine Filmpremiere ist davon nicht ausgenommen.

Langzeitbeobachtung von fast zwei Jahren

"Ernstfall" liefert entsprechend nicht nur eine Momentaufnahme vom Eindringen eines nahen Krieges in den Alltag einer Politik, die Auseinandersetzungen sonst nur auf weit entfernten Kontinenten zu kommentieren gewohnt war - und dies meist über Floskeln tat. Durch die Langzeitbeobachtung von fast zwei Jahren schafft Lamby ein umfassendes Bild des politischen Alltags und der stetigen Herausforderungen, denen sich die Ampel stellen muss; eine eindringliche Chronik von Höhen und Tiefen, von politischen Drahtseilakten und gewagten Manövern, begleitet von der unerbittlichen Kritik der Umfragewerte und dem unendlichen Rauschen der Medien. Die Medienlandschaft sei eine "nervöse Zone", sagt Schmidt, alle zwei Stunden müsse man etwas Neues vermelden.

Als notwendiger Kontrast zur sonst meist kurzen medialen Aufmerksamkeitsspanne ist der 75-minütige Dokumentarfilm am Ende sogar fast zu kurz geraten; Manchmal etwas zu hektisch folgt er dem Schlag-auf-Schlag der Ereignisse. Dass etwa auch noch die Aktionen der "Letzten Generation" begleitet und kommentiert werden, wirkt wie etwas zu viel des Guten. Warum die Szenen doch im Film landeten? Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine Herzensangelegenheit des Autors: "Wenn das Thema Klimawandel fällt, wird die Bevölkerung gespalten", urteilt Lamby.

"Einfach ist es gerade nicht"

Besonders beeindruckend sind indes jene Momente, in denen Lamby nicht die großen politischen Entscheidungen einfängt, sondern die Situationen der Anspannung, die kurzen Atempausen zwischen den endlosen Besprechungen und die authentischen Interaktionen der Schlüsselfiguren. Jene seltenen Einblicke sind es, die unendlich viel mehr verraten als alle offiziellen Verlautbarungen, Sommerinterviews und Experteneinschätzungen zusammen. Auch wenn man sich von diesen Einblicken mehr erhofft hätte, machen sie "Ernstfall" zum Muss für politische Beobachter und alle, die in Zeiten des Krieges hinter die Kulissen des Regierungsalltags blicken wollen. "Der Film wurde nie jemandem vorgezeigt", sagt Lamby mit Blick auf die Bundesregierung vor den versammelten Journalisten bei der Premiere - auch dies sei bei früheren Regierungen keine Selbstverständlichkeit gewesen.

Die Stimmung in der Koalition jedenfalls sei derzeit eigentlich "ziemlich gut", verkündet Wolfgang Schmidt bei der Berliner Premiere entgegen aller gegenteiligen Anzeichen. Man habe, das werde leicht vergessen, doch ziemlich viel geschafft. Eines sei im Film jedoch deutlich geworden, so der Kanzleramtschef: "Einfach ist es gerade nicht".

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