Frank Busemann im Interview

Olympia-Experte Frank Busemann: "Sich zu quälen, kann geil sein"

20.07.2024 von SWYRL/Eric Leimann

Am 26. Juli beginnen die Olympischen Spiele in Paris. Der ehemalige Weltklasse-Zehnkämpfer Frank Busemann kommentiert fürs Erste. Im Interview spricht er über die Krise der deutschen Leichtathletik. Was trieb ihn damals an, und was rät er seinen Kindern?

Olympia in Paris startet am Freitag, 26. Juli. Ab Donnerstag, 1. August, werden bei den Leichtathletik-Wettbewerben die ersten Medaillen verteilt. Einer, der weiß, wie sich das anfühlt, ist der ehemalige Weltklasse-Zehnkämpfer Frank Busemann. Der heute 49-Jährige gewann Silber bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta. Seit 2003, als der schlaksige Blonde aus dem Ruhrpott die Karriere beendete, arbeitet er unter anderem als Experte fürs TV. Busemann war immer bekannt dafür, positiv aufs Leben zu blicken, aber auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen, wenn es ums Ansprechen von Problemen ging. Dies beweist er auch beim Blick auf die Spiele von Paris - und die schwierige Situation der deutschen Leichtathletik. Für Busemann ist sie Ausdruck des Zeitgeistes und grundsätzlicher Entwicklungen unseres modernen Lebens.

teleschau: Bei der Leichtathletik-EM in Rom Anfang Juni waren überraschend viele Stars am Start. Ist das nicht riskant - so kurz vor Olympia?

Frank Busemann: Es kommt stark auf die Disziplin an. Ob man auf einen oder mehrere Höhepunkte pro Saison hintrainiert. Einem Sprinter, dem macht das nichts. Der kann sogar noch die ein oder andere Staffel mitlaufen. Mal 100 oder 200 Meter maximal schnell zu rennen, so etwas hat ein Athletenkörper immer zusätzlich drin. Beim Zehnkampf sieht das schon ganz anders aus. Drei Zehnkämpfe pro Saison sind meist das gesunde Maximum. Und auf die käme man schnell, wenn man neben zwei Großevents beispielsweise noch eine Qualifikation für diese braucht.

teleschau: Wie sind Ihre Erwartungen bei Olympia in Paris? Die letzten Wettkämpfe verliefen aus deutscher Sicht eher enttäuschend ...

Busemann: Wir kamen von der WM 2023 in Budapest ohne Medaille wieder - das war natürlich ein Schock. Bei der EM im Rom war es mit elf Medaillen okay. Für Paris, finde ich, sieht es nicht ganz schlecht aus. Ich sehe vier Medaillen-Anwärter, die auf jeden Fall das Potenzial haben. Natürlich ist die Tagesform entscheidend. Wie immer wird nicht jede und jeder, die ich auf dem Zettel habe, etwas holen. Gleichermaßen wird - auch das sagt die Erfahrung - jemand total überraschen. Ich gehe nicht von vier Medaillen aus. Zwei bis drei Medaillen ist für Deutschland das neue Normal.

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"Wir haben eine gleichgültige Einstellung gegenüber Leistung entwickelt"

teleschau: Wer sind denn Ihre vier deutschen Hoffnungen?

Busemann: Weitsprung und Kugelstoßen der Frauen sowie Speerwurf und Zehnkampf der Männer. Da sehe ich jene Athletinnen und Athleten, die aufgrund ihrer zuletzt gezeigten Leistungen vorne mitmischen sollten.

teleschau: Wenn wir Deutschen gegenüber früher kleinere Brötchen backen müssen, liegt das daran, dass andere Nationen aufgeholt haben? Oder ist die deutsche Leichtathletik nicht mehr das, was sie mal war?

Busemann: Beides trifft zu. Die Welt-Leichtathletik hat sich breiter aufgestellt. Ich sage immer: Laufen ist einfach, das kann jeder. Deshalb ist die Konkurrenz da schon lange sehr stark. Wir Deutschen hatten immer noch Vorteile bei den technischeren Disziplinen wie Wurf. Da entscheiden auch finanzielle Aspekte, deshalb hatten wir Vorteile. Auch der Zehnkampf gehört dazu. In Afrika findet man seltener Stabhochsprung-Anlagen als bei uns.

teleschau: Wird Leichtathletik in Deutschland noch ausreichend gefördert?

Busemann: Wir befinden uns da gerade an einer Wegscheide. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob wir den Erfolg wirklich wollen - und alles dafür zu geben bereit sind. Es ist aber auch ein gesellschaftliches Problem. Wir haben eine gleichgültige Einstellung gegenüber Leistung entwickelt. Diese beiden Dinge zusammengenommen, da muss man sich natürlich fragen: Was soll dabei herauskommen?

"Ich wollte einfach wissen: Was ist bei mir noch drin?"

teleschau: Hat Deutschland ein Problem mit Leistungsbereitschaft?

Busemann: Jenen Leuten, die jetzt nach Paris fahren, kann man keinen Vorwurf machen. Das sind zu einhundert Prozent Vollblut-Leichtathleten. Wir müssen aber vielleicht mehr Anstrengung darauf verwenden, jene zu finden, die vergessen wurden: Talente, die den Weg zur Leichtathletik nicht gefunden haben, weil sie dachten, sie würden Fußball-Profis bei Borussia Dortmund. Dabei hätten sie als Leichtathleten vielleicht Star-Potenzial. Ich glaube, mein Sport hat in der Gesellschaft keine so hohe Wertigkeit mehr. Es ist nicht mehr cool, all diese Entbehrungen auf sich zu nehmen, die es braucht, um an die Spitze zu gelangen.

teleschau: Haben die Kids keine Lust mehr, sich täglich stundenlang zu quälen, um schneller zu laufen, höher zu springen oder weiter zu werfen?

Busemann: Es hört sich negativ an, wenn ich sage: Wir sind weniger bereit als früher, Schmerzen auszuhalten. Man steht dann schnell in der Schweiß-und-Tränen-Ecke. Trotzdem sage ich: Wir müssen bereit sein, als Menschen über rote Linien zu gehen, sonst werden wir keine außergewöhnlichen Leistungen bringen. Man muss dorthin gehen, wo es verdammt noch mal ziemlich weh tut. Ich habe es gerade wieder ausprobiert. Ich versuchte, so schnell wie ich es noch hinkriege, 1.000 Meter zu laufen. Ich wollte einfach wissen: Was ist bei mir noch drin? Unterwegs bedauert man sich natürlich (lacht). Und danach stelle ich mir die Frage: Hätte ich noch mehr beißen können? Warum bin ich die letzten 100 Meter nicht so gelaufen wie die ersten 900?

teleschau: Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?

Busemann: Ich bin mir noch nicht sicher, ob es an mir oder dem Alter liegt. Das aber ist die Frage, die man sich stellen muss. Ich hatte immer diese Diskussion mit meinem alten Trainingskollegen. Wir stellten uns die Frage: Wer von uns beiden kann sich mehr quälen? Natürlich hat jeder Mensch - unabhängig von Talent, Strategie und Trainingsfleiß - eine individuelle persönliche Grenze. Und doch müssen wir wieder eine Sexiness dafür entwickeln, diese Grenzen verschieben zu wollen. Sich zu quälen, kann geil sein. Aber auch das fällt uns nicht in den Schoß. Man muss es sich erarbeiten. Leistung geschieht nicht aus Versehen. Sie ist immer das Resultat harter Arbeit.

"Meine Kinder würden nur mit mir verglichen werden ..."

teleschau: Man sagt, dass der Mensch immer etwas zurückbekommen muss, damit er bereit ist, viel zu investieren. Was war es bei Ihnen?

Busemann: Ganz klar, es ist die tägliche Arbeit, die Spaß machen muss. Alle anderen Ansätze sind zum Scheitern verurteilt. Meine Kinder fragen mich oft: "Papa, was muss ich tun, um reich zu werden?" Dann sage ich immer: "Tue das, was dir am meisten Spaß macht." Doch das ist gar nicht so einfach. Jenes Ding, das am meisten Spaß macht, im Leben zu finden, ist eine große Kunst. Genau dort müssen wir als Gesellschaft den Hebel ansetzen. Wir sollten Rahmenbedingungen schaffen, damit junge Menschen eine bessere Chance haben, ihr Ding zu finden - und darin gefördert zu werden.

teleschau: Wie alt sind Ihre Kinder - und sind sie im Leistungssport gelandet?

Busemann: Meine Kinder sind 15, zwölf und neun Jahre alt. Die Großen spielen Handball, und die Kleine ist noch auf der Suche. Mit Leichtathletik hat sie gerade wieder aufgehört.

teleschau: Sie konnten als ehemaliger Weltklasse-Zehnkämpfer keines Ihrer Kinder für die Leichtathletik begeistern?

Busemann: Nein, das wollte ich auch nicht. Meine Kinder würden nur mit mir verglichen werden - und da ziehen sie leider den Kürzeren. Weil es dann immer heißt: "Dein Papa ist aber mit 15 Jahren weiter gesprungen als du." So etwas will kein Teenager hören. Im Handball sind meine Großen gut, sehr gut sogar - und das begeistert mich als Papa. Ich bewundere sie dafür, fahre sie überall hin und lasse mir erklären, warum diese oder jene Aktion abgepfiffen wurde oder warum eine andere kein Tor war. Kinder müssen ihre eigenen Felder beackern und nicht jene der Eltern übernehmen. Ersteres ist zumindest sehr viel leichter.

"Kinder haben heute einfach viel weniger Zeit als wir damals"

teleschau: Kommen wir doch noch mal zu Ihrer ganz persönlichen Qual zurück. Wissen Sie noch, was genau Ihnen den Kick verschafft hat?

Busemann: Ich war jemand, den seine Trainingsleistungen gepusht und motiviert haben. Im Zehnkampf hat man logischerweise viele Möglichkeiten, sich zu messen, zu vergleichen und eben zu verbessern. Da ist es für einen Fuß- oder Handballer natürlich viel schwieriger, den großen Kick im Training zu bekommen.

teleschau: Wie konkret sind die Nachwuchssorgen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes?

Busemann: Das kann ich nicht sagen, da müsste man jetzt den Verband selbst oder Unis befragen. Vielleicht irgendwelche Statistiken herauskramen. Ich weiß nur, dass wenn wir früher Westfalen-Meisterschaften, also Landeswettbewerbe hatten, gab es teilweise Vorläufe, Zwischenläufe und den Endlauf. Mittlerweile ist es so, dass man froh sein kann, wenn da noch acht Bahnen für den Endlauf voll werden.

teleschau: Warum entscheiden sich so wenige Kinder für die Leichtathletik? Gibt es neben dem Thema mangelnde Leistungsbereitschaft noch andere Gründe?

Busemann: Kinder haben heute einfach viel weniger Zeit als wir damals. Das sehe ich auch bei meinen eigenen Kindern. Wenn ich mich an früher erinnere: Wir hatten Zeit, um zu spielen und uns mit Freunden zu verabreden. Heute ist alles durchgeplant. Bei unseren Kindern und natürlich auch bei uns.

teleschau: Wie sieht Ihre sportliche Gegenwart aus? Was machen Sie noch für den eigenen Körper?

Busemann: Ich gehe regelmäßig joggen. Gerade bin ich zehn Kilometer gelaufen und habe dabei zweimal einen schnellen Kilometer eingestreut. Immer dann, wenn es ein bisschen bergab ging. Nichts Wildes, auch wenn ich mich danach bedauert habe (lacht). Das Gute ist: Hinterher fühlt man sich immer für ziemlich lange Zeit gut. Deshalb kann ich jedem ein bisschen Qual empfehlen.

"Natürlich muss man ein bisschen Demütigung und Spott aushalten"

teleschau: Schauen Sie noch auf die Uhr und setzen sich Ziele?

Busemann: Es ist vorwiegend Spaß - aber der Spaß mündet dann doch irgendwie immer im Volkslauf. Mich auf eine Sache vorzubereiten und dann einen Fünf- oder Zehnkilometerlauf anzugehen, macht mir richtig Freude. Früher habe ich gerade das Laufen gehasst. Da hätte ich nie gedacht, dass ich es später mal freiwillig machen würde.

teleschau: Steht man als prominenter Ex-Sportler beim Volkslauf nicht im Fokus und wird aufgezogen, wenn man von anderen - also Jüngeren - überholt wird?

Busemann: Natürlich muss man ein bisschen Demütigung und Spott aushalten. Die, die mich schlagen, sind dann auch total stolz. Es ist auch vollkommen in Ordnung so. Mir ist es egal, ob ich bei einem Volkslauf auf Platz 30 oder Platz 740 lande.

teleschau: Ihr potenzieller Nachfolger als deutscher Zehnkampf-Weltstar, Leo Neugebauer, hat Ihnen vor kurzem den Deutschen Siebenkampf-Rekord abgenommen ...

Busemann: Natürlich war ich angepisst (lacht). Jeder, der einen Rekord hat, will ihn behalten. Wenn jemand über die eigene Bestmarke sagt: "Rekorde sind dazu da, gebrochen zu werden", dann lügt er. Nur die Rekorde der anderen sind dazu da, gebrochen zu werden (lacht). Aber klar, die Uhr tickte. Mein Rekord stand seit 2002. Ich hatte damals den von Siggi Wentz gebrochen, und der war damals auch schon 16 Jahre alt. Aber klar, es tut weh. Jetzt kann ich nicht mehr damit angeben (lacht).

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