ARD-Korrespondentin

Sabine Rau zur Stimmung in Paris kurz vor Olympia: "Viele Menschen fühlen sich nicht mitgenommen"

21.07.2024 von SWYRL/Maximilian Haase

Wie ist die Stimmung in Paris kurz vor den Olympischen Spielen? ARD-Korrespondentin Sabine Rau hat die Vorbereitungen in der französischen Hauptstadt ein Jahr lang begleitet. Welche Hoffnungen man in das Spektakel setzt und wo die Spiele schon jetzt für Frust sorgen, berichtet sie im Interview.

Paris steht ein Sportspektakel der Superlative bevor: Die französische Hauptstadt richtet nach 100 Jahren wieder die Olympischen Spiele aus - und will zur Feier des Jubiläums neue Maßstäbe setzen. Die Ziele der Veranstalter, allen voran Präsident Emmanuel Macron, sind hochgesteckt: Von der Eröffnungsfeier auf der Seine bis zu den außergewöhnlichen Sportstätten mitten in der Metropole soll eine einmalige Kulisse die Gäste beeindrucken, während zugleich so viel Wert auf Nachhaltigkeit gelegt wird wie nie zuvor. Erstmals möchte man auch die Erwartungen der Bewohner ins Zentrum stellen - "Spiele für alle" sollen es werden. Kann das gelingen? Wie ist die Stimmung kurz vor Beginn? Und wo hakt es noch? Sabine Rau, Paris-Korrespondentin im Ersten, hat die Vorbereitungen auf Olympia ein Jahr lang beobachtet, die Organisation begleitet, Anwohner befragt und ihre Erkenntnisse in einer Dokumentation zusammengefasst (Montag, 22. Juli, 22.20 Uhr, ARD). Im Interview berichtet die Journalistin von Vorfreude und Stolz, aber auch von Terror-Angst und Frust in den Banlieues.

teleschau: Kurz bevor die Olympischen Spiele in Paris beginnen, widmen Sie sich in einer Dokumentation den Vorbereitungen der letzten Monate. Wie blicken Sie auf das bevorstehende Spektakel?

Sabine Rau: Ich habe als Paris-Korrespondentin der ARD ein Jahr lang verfolgt, wie die Idee zu diesen Olympischen Spielen umgesetzt und organisiert wurde. Die Dokumentation wird aus einer sehr persönlichen Perspektive erzählt - meine eigenen Beobachtungen und Einschätzungen spielen eine große Rolle. Also: Was sehe ich, was erlebe ich, was geht mir dabei durch den Kopf?

teleschau: Was konnten Sie mit Blick auf Anspruch und Umsetzung feststellen?

Rau: Die Idee hinter den Spielen in Paris ist auf den ersten Blick faszinierend. Das zentrale Versprechen, für das auch Präsident Emmanuel Macron einsteht, lautet: Die Olympischen Spiele sollen besondere werden, weil sie den Anspruch haben, klimaneutral, ökologisch und sozial organisiert zu sein - für die Menschen in der Stadt und in den Banlieues. In klarer Abgrenzung zu allem, was die Bewohnerinnen und Bewohner anderer großer Metropolen in den letzten Jahren erlebt haben. Da hieß es oft: Geht mir weg mit diesen Spielen, wir haben nur den Lärm und Schmutz, und hinterher leerstehende Arenen und verfallende Olympische Dörfer.

teleschau: Was soll dagegen 2024 anders sein?

Rau: In Paris wollte man einen anderen Ansatz - und dabei die Menschen mitnehmen. Sie sollen tatsächlich das Erlebnis haben, dass sich ihr Leben dadurch ein Stück weit verbessert. Unsere Reportage fragt nach, ob dieses große Versprechen eingehalten werden kann.

teleschau: Sind Sie bei Ihren Recherchen zu einem Schluss gekommen?

Rau: Schauen wir auf Paris, können wir das zum großen Teil bejahen. Die Stadt ist zum dritten Mal nach 1900 und 1924 Austragungsort der Spiele. 100 Jahre später besitzt man - so die offizielle Aussage - für die Ausrichtung eines solchen Megaevents schon alles: die Stadien, die im Lauf der letzten Jahre verbesserte Verkehrsinfrastruktur, die sukzessive ausgebauten Fahrradwege. Hinzu kommen Veranstaltungsorte wie das Grand Palais der Weltausstellung, das nun für die Judo-Wettkämpfe hergerichtet wurde.

teleschau: Neu gebaut werden musste also wenig?

Rau: Genau. Aber auch die Adidas-Arena, die als neues Gebäude wie ein Ufo in ein absolutes Problemviertel gesetzt wurde, hat bislang positive Folgen. Noch vor zwei Jahren befand sich an der Porte de la Chapelle der sogenannte Crack-Hügel; auch mussten dort Flüchtlinge unter unsäglichen Bedingungen campieren. Heute hat sich mit dem Bau der Arena die soziale und Sicherheitssituation der Menschen im Viertel verändert.

teleschau: Woran zeigt sich das?

Rau: Mir sagten Anwohner, dass sie früher ihre Kinder nicht allein rauslassen konnten. Jetzt fühlen sich Familien dort wieder wohl und sicher. Sportclubs, die zuvor kein Zuhause hatten, werden in der Arena für Jugendliche aus den Problemvierteln einen Anlaufpunkt haben. Da funktioniert es.

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"Die Menschen wurden von den Planungen vollkommen überrollt"

teleschau: Wo funktioniert es denn nicht so, wie man es sich vorgestellt hat?

Rau: Das ist eine berechtigte Frage. In Paris selbst wurden drei neue Metrolinien versprochen - fertig geworden ist nur eine. Auch beim großen Fahrradnetz - geplant waren neue 60 Kilometer Strecke - fehlt es noch an vielen Ecken und Enden. Paris ist die am meisten besuchte Stadt der Welt, und wenn nun die Olympia-Touristen dazukommen, wird natürlich Chaos befürchtet. Dort ist die Planung nicht hinterhergekommen. Ebenso problematisch ist die Sicherheitslage. Die Anschlagsgefahr wird in Paris weiterhin als sehr hoch eingeschätzt. Und jetzt, mit der neuen politischen Lage nach den Neuwahlen, werden zudem Unruhen nicht ausgeschlossen. Dazu die Frage: Was passiert, wenn der Innenminister, zuständig für die Sicherheit der Spiele, kurz vor dem Olympia-Start ausgewechselt wird? Das alles schafft natürlich Unsicherheit.

teleschau: Wie ist die Lage in den Vorstädten kurz vor Beginn der Spiele?

Rau: Ein Viertel, das auch im Film eine große Rolle spielt, verdeutlicht das beispielhaft: Das Olympische Dorf wurde in Saint Denis gebaut, dem ärmsten Arrondissement von Frankreich. Direkt vor den Toren von Paris und dort, wo sich das Stade de France befindet. Um den Athletinnen und Athleten die Zufahrt zu ermöglichen, ist dort ein Autobahnzubringer gebaut worden. Dieser Zubringer ist brutal und brachial durch ein Wohnviertel und an einer Schule vorbeigezogen worden.

teleschau: Was sagen die Anwohner dazu?

Rau: Die Menschen wurden von den Planungen vollkommen überrollt. Im Film kommt Marc Poulbot zu Wort; ein engagierter Anwohner. Er arbeitet im Schichtdienst als Elektromechaniker und ganz dicht an seinem Wohnhaus wurde dieser Zubringer vorbeigebaut - an einer ehemals hübschen kleinen Straße. Der fragt sich natürlich: "Ich soll von den Spielen profitieren?" Das einzige, das er bekommt, ist mehr Lärm und mehr Dreck. Derweil läuft die Straße auch mit einer irren Auto-Frequenz an der Grundschule vorbei, wo täglich Kinder ein- und ausgehen. Die Eltern machen sich Sorgen um die Sicherheit, aber auch um die CO2-Emissionen. Weniger Ausstoß von CO2 war ja eines der Versprechen, das ausgerechnet in der Vorstadt nicht erfüllt wird.

teleschau: Konnten Sie die Verantwortlichen damit konfrontieren?

Rau: Die sagen natürlich, dass sich dies verkehrstechnisch gar nicht anders lösen ließe. Irgendwie müsse man ja die 10.500 Athletinnen und Athleten in das Dorf bekommen.

teleschau: Wie würden Sie denn das neu gebaute Olympische Dorf allgemein bewerten?

Rau: Es gibt gute Aspekte: Es sind keine Mega-Hochhäuser geworden, es gibt viele Grünflächen. Nach den Spielen sollen aus dem Olympischen Dorf unter anderem auch Sozialwohnungen werden. Ich konnte mit dem zuständigen Bürgermeister sprechen - der hat sich sehr für das Olympische Dorf eingesetzt und für die Forderung, dass damit in seinem Stadtteil neuer, menschenwürdiger Wohnraum entsteht. Denn er selbst ist in einer Banlieue-Hochhaussiedlung aufgewachsen.

"Allgemein ist die Stimmung in den Vorstädten eher zurückhaltend"

teleschau: Insgesamt scheint die Stimmung in den Banlieues hinsichtlich Olympia aber durchwachsen?

Rau: Es kommt darauf an, wen man fragt. Aber allgemein ist die Stimmung in den Vorstädten eher zurückhaltend. Viele Menschen fühlen sich nicht mitgenommen. Nicht eingebunden bei der Planung - und nicht bei der Idee, dass Olympia auch soziale Veränderungen bringen kann. Aber fragt man beispielsweise die Kinder in den Vorstädten, dann geht einem das Herz auf.

teleschau: Was sagen die zu den Spielen?

Rau: Die zehn-, zwölfjährigen Jungen und Mädchen wissen natürlich, dass die Spiele nach Paris kommen. Es ist nah und erlebbar für sie. Die Stadt bemüht sich, für Familien aus einfachen Verhältnissen über Jugendvereine kostenlos Karten zur Verfügung zu stellen. Damit die auch in die Stadien und Spielstätten gehen können.

teleschau: In Ihrer Reportage kommt auch der ehemalige Sprinter Mathieu Lahaye vor, der den Kids die Leichtathletik nahebringen will - aber bereits recht desillusioniert scheint. Weshalb?

Rau: Er geht mit seinem Projekt direkt in die Banlieues, überall in Frankreich. Mit seinem Team organisiert er Leichtathletikwettbewerbe für die Kinder aus der Vorstadt. Das zu sehen, ist sehr beeindruckend. Man sieht, wie viel Potenzial für Sozialarbeit in so einem Projekt steckt. Da kommen Kinder, die noch nicht einmal Turnschuhe haben und ihre 60 Meter in Socken laufen. Das macht fassungslos. Gleichzeitig blickt man aber in strahlende Gesichter. Weil ihnen etwas angeboten wird, dass sie sonst nicht angeboten bekommen. Da laufen Mädchen mit Kopftüchern Rennen mit den Jungs. Die hätte das IOC auch als Transporteure des Olympischen Gedankens mitnehmen können.

teleschau: Wie offen sind denn die Jugendlichen und andere Bewohner der Banlieues gegenüber den Medien - etwa Ihrem Team für die Reportage?

Rau: Grundsätzlich gibt es eine Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber dem deutschen Fernsehen, das war auch beim Olympia-Dreh so. Auch in Abgrenzung zu französischen Medien, wo es ein öffentlich-rechtliches Fernsehen in unserem Sinne nicht gibt. Die Menschen in den Vorstädten finden, dass die Banlieues im französischen TV zumeist nur negativ dargestellt wird. Wir haben uns um einen anderen Blick und Zugang bemüht - und das merken die Menschen auch. Wir hatten durchgängig schöne Drehs in den Vorstädten, bei denen die Bewohner bereit waren, mit uns zu sprechen. Und ich glaube, wir können im Film ein gutes Bild davon liefern, worin die Enttäuschung und Skepsis einiger Menschen begründet ist.

"Es gibt keinen Plan B"

teleschau: Das andere hehre Ziel der Organisatoren haben Sie ebenfalls bereits genannt: Es sollen nachhaltige, ökologische Spiele werden. Eine große Rolle spielt dabei die Seine, die bei der Eröffnungsfeier im Zentrum stehen und auch als Austragungsort dienen soll. Wie kann das gelingen?

Rau: Das ist vielleicht das ambitionierteste Projekt beim Thema Nachhaltigkeit. Die Eröffnungsfeier soll zum ersten Mal nicht in einem Stadion, sondern mitten in der Stadt - auf der Seine - stattfinden. Zudem sollen wichtige Wettbewerbe wie der Schwimmmarathon und der Triathlon dort ausgetragen werden. Das Problem war dabei das veraltete Kanalsystem der Stadt, durch welches das Wasser bei starkem Regen oft mit Bakterien verschmutzt ist. Wenn es also - wie bei der misslungenen Generalprobe im vergangenen Jahr - zu sehr regnet, könnten die Bakterienwerte für die Wettbewerbe zu hoch sein. Nicht umsonst gilt seit 100 Jahren ein absolutes Schwimmverbot in der Seine.

teleschau: Nach den Spielen sollen man ja im Fluss schwimmen können. Was sagen die Bewohnerinnen und Bewohner zu diesem Plan?

Rau: Die Seine ist ein kulturelles und soziales Zentrum. Im Sommer ist das ganze Ufer gesäumt von Menschen. Es würde die Lebensqualität noch steigern, wenn der Fluss freigegeben würde und man die versprochenen Schwimmbäder errichten würde. Wenn das gelänge, hätte das auch eine Vorbildfunktion für viele andere Metropolen weltweit.

teleschau: Inwiefern?

Rau: Es ist ja überall das Gleiche: Die Flüsse wurden durch die Industrialisierung kaputt gemacht. Heute sind wir an einem Punkt, sie mit Einsicht und moderner Technik zu renaturieren und den Menschen als Lebensraum zurückzugeben. In den USA und Lateinamerika etwa schaut man gespannt darauf, ob die Franzosen es hinbekommen, ihren berühmten Fluss schwimmbar zu machen. Hier geht man ein großes Risiko ein. Wenn es nicht klappt, ist eines der großen Versprechen vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht eingelöst.

teleschau: Was passiert, wenn das Wasser nicht freigegeben wird?

Rau: Es gibt keinen Plan B, sagt Pierre Rabadan in unserem Film, der in Paris dafür verantwortlich ist. Man werde sicherlich nicht in eine Schwimmhalle gehen. Es bleibt eine spannende Frage bis zuletzt, ob die Wettkämpfe in der Seine stattfinden können. Und: So ist Präsident Macron ja auch. Immer auf volles Risiko gehen.

"Die Olympischen Spiele sind ganz klar mit Emmanuel Macron konnotiert"

teleschau: Wie viel Macron steckt denn in den Spielen?

Rau: Die Olympischen Spiele sind ganz klar mit Emmanuel Macron konnotiert. Er hat sie sich von Anfang an zu eigen gemacht, war bei allen wichtigen Veranstaltungen dabei, hat Reden gehalten. Er steht als Person und Präsident für das Versprechen, dass die Französinnen und Franzosen von den Spielen profitieren werden. Von Beginn an war das eine Spiel- und Projektionsfläche für ihn. Macron hat Olympia ganz klar eingepreist als einen Höhepunkt seiner Präsidentschaft. Jetzt, mit den politischen Turbulenzen in Frankreich, muss man sehen, ob das noch funktioniert.

teleschau: Gab und gibt es Gegenstimmen aus dem rechten und linken Lager?

Rau: Nein, das ist anders als etwa in Deutschland. In Frankreich ist Olympia eine nationale Anstrengung. Etwas, worin sich die Größe und Strahlkraft des Landes ausdrücken kann. Ein nationaler Moment. Daher ist bislang von links- und rechtsaußen wenig Kritisches zu hören. Bislang haben Le Pen oder andere Politiker das Thema Olympia noch nicht aufgegriffen, aber das könnte auch noch kommen.

teleschau: Wird die Sorge vor Terroranschlägen thematisiert?

Rau: Ja. Das Konzept beinhaltet natürlich Maßnahmen für absolut erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Nicht nur werden 300.000 Menschen bei der Eröffnung am Seine-Ufer erwartet, die überprüft werden müssen. Auch werden viele Sportwettkämpfe an prominenten Plätzen in Paris stattfinden - etwa vor dem Eiffelturm. Dort baut man vorübergehende Stadien auf, die nach den Paralympics wieder abgebaut werden. Die Menschenströme, die sich dahinbewegen, müssen ja irgendwie überwacht werden. Jeden Tag sollen 30.000 Soldaten, Polizisten, Soldaten und Spezialkräfte um alle Spielstätten für Sicherheit sorgen. Und weil so viel Personal gar nicht zur Verfügung steht, hat man im Privatsektor rekrutiert. Es gab sogar Schnellkurse und Sicherheitstrainings für Menschen, die gerade auf der Suche nach einem Job sind.

teleschau: Wie erleben Sie dahingehend die Stimmung in der Stadt: Haben die Menschen auch Sorge?

Rau: Ja, das ist eine sehr zentrale Frage. Die Pariserinnen und Pariser haben den Schock der islamistischen Anschläge von 2015 noch immer in den Knochen. Viele aus meinem Bekanntenkreis sagen, dass sie während der Olympischen Spiele nicht in Paris sein wollen.

teleschau: Wie ist das bei Ihnen - werden Sie sich auch sportliche Wettbewerbe ansehen?

Rau: Auf jeden Fall! Wenn man das Thema so lange begleitet, dann entsteht eine absolute Lust darauf, dabei zu sein. Ich freue mich darauf. Wenn nichts dazwischenkommt - Stichwort Seine und Anschläge - kann es ein tolles Event werden. Eines, das Paris noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise aufblühen lassen könnte. Ich bin guter Dinge, dass nach den Olympischen Spielen positive Dinge bleiben werden.

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