06.11.2024 von SWYRL/John Fasnaugh
Den Namen Antoine Leiris hat man vielleicht wieder vergessen, aber seine Worte haben sich bei vielen ins Gedächtnis eingebrannt: "Meinen Hass bekommt ihr nicht" erzählt aus Sicht eines Hinterbliebenen von der Pariser Terror-Nacht am 13. November 2015 sowie von der schwierigen Zeit danach.
Eine koordinierte Serie von Anschlägen im Zentrum von Paris sowie vor dem Stadion Stade de France mit insgesamt 130 Toten und 683 Verletzten: Die Attentate vom 13. November 2015, zu denen sich hinterher der Islamische Staat (IS) bekannte, versetzten an jenem Freitagabend nicht nur ganz Frankreich, sondern die gesamte westliche Welt in Schockstarre. Eine Tragödie, die tagelang die internationalen Schlagzeilen bestimmte. Antoine Leiris gehörte damals nicht zu den Todesopfern - aber sein persönliches Zeugnis von dieser Nacht und den 13 Tagen danach gehört doch zu den eindringlichsten. Erst war da ein Social-Media-Text, dann ein Buch und darauffolgend schließlich ein Film. ARTE zeigt "Meinen Hass bekommt ihr nicht" (2022) jetzt als TV-Premiere.
Regisseur Kilian Riedhof steigt mit betont unaufgeregten, fast schon dokumentarisch-nüchternen Szenen in diesen Film ein. Antoine (Pierre Deladonchamps) und Hélène (Camélia Jordana) liegen morgens im Bett, der kleine Sohn Melvil (Zoé Iorio) kommt hinzu. Man zankt sich über einen Urlaub, der nicht wie geplant stattfinden kann, dann verschwindet ein Plüschtier. Alles nicht spektakulär, alles irgendwie unbedeutend. Und dann waren das auf einmal die letzten Momente, die Antoine und Melvil gemeinsam mit Mama Hélène verbracht haben. Die junge Frau geht abends aus - nicht zu dem Fußballspiel zwischen Deutschland und Frankreich, das im Stade de France ansteht, sondern zu einem Konzert der Band Eagles of Death Metal im Club Bataclan. Sie wird nicht wieder zurückkehren.
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Packender Thriller, bewegendes Drama
Antoine Leiris war nicht im Stade de France, nicht im Bataclan und nicht im Stadtzentrum, als es passierte, sondern zu Hause mit Melvil, und so finden die Anschläge auch im Film nur indirekt statt. Über das Blaulicht und die Sirenen auf der Straße. Über besorgte SMS-Nachrichten, die Antoine zunächst gar nicht deuten kann ("Geht es euch gut? Seid ihr zu Hause?"). Über besorgte Anrufe von Freunden und Verwandten und schließlich über Antoines verzweifelte, stundenlange Suche nach Hélène. Kilian Riedhof inszeniert diese bangen Momente packend wie einen Thriller. Dann, als traurige Gewissheit herrscht, wandelt der Film sich zum bewegenden Drama.
Antoines ganzes Leben scheint zerstört. Der Journalist schläft kaum noch, hängt Erinnerungen an Hélène nach, fantasiert davon, sich aus dem Fenster zu stürzen. Wie soll er dem immer lauter quengelnden Melvil begreiflich machen, dass Mama nicht zurückkommt? Wie soll er ohne sie den Alltag bewältigen? Der Kummer droht ihn aufzufressen. Dann setzt er sich an seinen Laptop, um auf Facebook eine an die Attentäter adressierte Nachricht abzusetzen, die viral gehen wird: "Am Freitagabend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht ..."
Ein Leben ohne ewigen Zorn
Was, wann, wer, wo, wie viele Tote und wie viele Leicht- und Schwerverletzte: Nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland und in vielen anderen Ländern wurde die Pariser Terror-Nacht vom November 2015 in den Tagen danach immer wieder erschöpfend von links nach rechts und wieder zurückgewendet. "Meinen Hass bekommt ihr nicht" füllt dennoch eine Lücke, wie es kein TV-Brennpunkt und kein noch so informativer Zeitungsartikel zu tun vermag: Wie schon die Social-Media-Nachricht und später das Buch von Antoine Leiris macht auch der Film die Tragödie anhand einer individuellen Geschichte, die stellvertretend für viele steht, menschlich "greifbar".
Er zeigt, wie eine Familie von einem Moment auf den anderen zerrissen wird und wie schwer es ist, sich nicht in der Trauer zu verlieren. "Meinen Hass bekommt ihr nicht" erzählt letzthin aber auch davon, wie es gelingen kann, dass das Leben weitergeht - und zwar ohne ewigen Zorn.