"3nach9"

"Wir leben in einer Welt, die immer ungesitteter wird": Kevin Kühnert packt erstmals über seinen Rückzug aus

26.04.2025 von SWYRL/Marko Schlichting

Vor sieben Monaten hat sich der ehemalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert aus der Politik zurückgezogen. Am Freitagabend versucht Kühnert in der Radio-Bremen-Talkshow "3nach9", seinen Schritt zu erklären. Er spricht von den Selbstzweifeln eines Intellektuellen und von einem Gefühl des Scheiterns.

Sein Entschluss sorgte für überraschte Gesichter. Vor sieben Monaten hat er sich aus der Politik zurückgezogen: der ehemalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Viele fragten: Was ist passiert? Am Freitagabend ist Kühnert zu Gast in der Radio-Bremen-Talkshow "3nach9". Zum ersten Mal berichtet er im Fernsehen von Zweifeln, Bedrohung, Erschöpfung. Er wirkt gut gelaunt, als sei ein Mühlstein von seinen Schultern gefallen. Ein zentnerschwerer Mühlstein.

"Mir geht es gut", antwortet Kühnert auf die Frage von Moderator Giovanni di Lorenzo nach seinem Befinden. Sieben Monate ist es her. Da sah das ganz anders aus. Kühnert ist ein Arbeitstier, schläft wenig. Morgens ein Interview im Morgenmagazin, dann Arbeit für die SPD, deren Generalsekretär er ist, dann wieder eine Talkshow. Von Erschöpfung ist keine Spur zu merken. Und doch: Etwas ist nicht in Ordnung. Kühnert scheint in einer Art "politischem Mahlstrom" gefangen zu sein, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Außer, er zieht die Reißleine. Und das tut er.

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Kevin Kühnert spricht über Anfeindungen

Was ihn genau zu seinem Rückzug aus der Politik bewogen hat, kann Kühnert heute nur schwer erklären. Von einem Burnout möchte er jedenfalls nicht sprechen, sagt er bei "3nach9". "Nicht einmal im Ansatz. Weil ich bis drei Wochen vor meinem Rücktritt auf meinem völlig normalen Leistungsniveau gewesen bin." Irgendwann habe er aber gemerkt, dass er sich nicht mehr politisch professionell den Problemen der Gesellschaft widmen konnte. Er sei von den Problemen "bedrückt" gewesen, erzählt Kühnert. Er habe das Gefühl gehabt, man könne an bestimmten Ereignissen nichts mehr ändern. "Es kann sein, dass es hier dann pathologisch geworden ist."

Was Kühnert beschreibt, ist schwer zu erfassen für jemanden, der so etwas nicht erlebt hat. Vielleicht ist es die Depression, die viele Politiker fühlen, die Angst vorm Scheitern, das Gefühl einer Bedrohung, sei sie nun imaginär oder real vorhanden. Kühnert weiß es nicht, will aber erklären, was er empfunden hat.

Kühnert: "Es gab eine völlig banale Besprechungssituation, wie es sie zu tausenden in meinem Alltag gegeben hat. Das war eine dienstliche Besprechung im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale der SPD. Die Besprechung hat sich mit der Vorplanung des Bundestagswahlkampfs befasst. Das war im September. Die Ampelkoalition existierte noch. Der Wahltermin sollte ein Jahr später sein. Das war eine Besprechung, die bei mir ganz große Denkprozesse über die Fragen von Weltwirksamkeit im politischen Betrieb ausgelöst hat. Es war die Frage, ob ich hier richtig bin, ob ich dem Ganzen irgendeinen Schubs in die richtige Richtung geben kann. Ich habe bei mir gemerkt, dass ich eine tiefe innere Unzufriedenheit mit der Beantwortung der Frage habe, was mein Fußabdruck ist, den ich nach so vielen Jahren Volleinsatz bilanzieren kann."

In diesem Moment habe er die Entscheidung getroffen: Es muss sich etwas ändern. Und die sei richtig gewesen, sagt er. "Das ist meine Art, damit umzugehen." Dazu seien bestimmte Erfahrungen gekommen, die er gemacht habe. "Es gab diese Momente: Anfeindungen, auch körperliche." Er habe einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung gehabt, beschreibt Kühnert seine Erlebnisse. "Man ist dafür bekannt, eine Position zu beziehen, die im Falle der SPD 84 Prozent der Leute bei der letzten Wahl nicht gewählt haben. Da kann man sich vorstellen, wie viele Begegnungen es gibt, die konfliktbehaftet sind. Und manche sind nicht potenziell konfliktbehaftet, sondern konkret."

Mit einem Ei attackiert: "Das hätte auch etwas anderes sein können"

Kühnert spricht von "Gewaltphantasien, die offen geäußert werden: Kopf-ab-Gesten, laute Gespräche in öffentlichen Verkehrsmitteln darüber, was man mit einem gerne machen würde", Eine Frau habe bei einer Veranstaltung ein Ei aus der Tasche geholt und es ihm vor den Kopf geschlagen. "Das hätte auch etwas anderes sein können", sagt Kühnert. Er habe erlebt, dass sich die Gesellschaft verändert habe. "Nicht nur im Umgang mit Politikern, sondern im Umgang damit, wie wir Konflikte nicht mehr aushalten im Alltag, mit Andersdenkenden nicht mehr reden können. Wir leben in einer Welt, die immer ungesitteter wird."

Er hat die Radikalisierung der Gesellschaft erlebt, in der Sprache, aber auch in der Tat von einzelnen. Er habe nie etwas gegen Diskussionen gehabt, sagt Kühnert. "Aber wenn man wie so eine Boxbudenfigur angesehen wird, wo jeder noch mal draufhauen darf unter großem Gejohle: So funktioniert Gesellschaft am Ende nicht."

Kühnert ist kein Mensch, der zurückschlagen will. Nicht mit harten Worten, schon gar nicht körperlich. Er wünscht sich einen respektvollen Umgang miteinander, im normalen Leben wie auch in der Politik. Das ist ihm wichtig. Darum will er seine Erfahrungen weitergeben: "Weil ich in diesem Betrieb in den letzten Jahren gewesen bin, weil ich große Wertschätzung für ihn habe und für die Leute, die Zeit und Energie in den politischen Betrieb hineingeben. Und weil ich glaube, dass ich Beobachtungen und Erfahrungen zu teilen habe, die über Politikvoyeurismus hinausgehen."

Kühnert hat in dem politischen Alltag, der für ihn möglicherweise manchmal zu einem Spießrutenlauf geworden ist, gelebt. Diese Erfahrung wolle er weitergeben, sagt Kühnert. Und nebenbei möchte er ein Musikinstrument spielen lernen: Hackbrett. Und einen Lehrer dafür, den hat er vielleicht auch bald. Denn langsam werden die Tage ein bisschen langweilig, sagt Kühnert. So ganz ohne Stress geht es halt doch nicht.

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