22.04.2025 von SWYRL/Susanne Bald
Der neueste "Ostfriesenkrimi" überrascht mit einem literarisch gebildeten Masken-Killer und macht auf wichtige Themen aufmerksam: häusliche Gewalt und Femizide. Dass die Ermittlungen von Ann Kathrin Klaasen (Picco von Groote) und ihrem Team dabei leicht ins Abstruse abgleiten, sei da gerne verziehen.
Der neue Krimi "Ostfriesentotenstille" nach Klaus-Peter Wolfs Roman beginnt ungewohnt brutal: Ein Einbrecher mit Teufelsmaske überfällt den betrunkenen Johann Ricklef (Guido Renner), bedroht ihn mit einem Messer und schneidet ihm einen Finger ab. Dabei zitiert er Kafka: "'Die Verwandlung' ist die Geschichte einer Metamorphose. Johann, du kannst dich ändern! Behandle deine Frau wie eine Königin und sei deinem Kind ein guter Vater!", mahnt der Maskenmann. Ein belesener Psychopath. Ein Deutschlehrer vielleicht? So langsam wird klar, warum zum zweiten Mal in Folge ein "Ostfriesenkrimi" nicht, wie üblich, im ZDF ausgestrahlt wird, sondern am Freitagabend beim Kultursender ARTE.
Am nächsten Tag werden Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen (Picco von Groote) und ihr Mann und Kollege Frank Weller (Tom Radisch) ins Krankenhaus gerufen. Ricklef, der sich nachts einweisen ließ, will nun nichts mehr von einem teuflischen Einbrecher wissen - er habe sich den Daumen im Rausch selbst abgeschnitten. Den rechten Daumen? Als Rechtshänder? Die Begegnung mit Ricklefs eingeschüchtert wirkender Frau Susanne (Daniela Schulz) verstärkt das Gefühl der Ermittler, dass hier etwas nicht stimmt.
Tatsächlich ist Ricklef wohl schon lange gewalttätig gegenüber Susanne und Sohn Frithjof. Eine anonyme Meldung von dessen Schule und eine Anzeige einer Ex-Freundin blieben folgenlos.
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Der Arzt, dem die Menschen vertrauen - ein Mörder?
Der Film schwenkt kurz ins Seifenopernhafte: Dr. Bernhard Sommerfeldt (Sven Schelker), jung, attraktiv und charmant, schlendert mit seiner Freundin Beate (Sinja Dieks) - Frithjofs Lehrerin - durch das malerische Norden. Frauen und Kinder begegnen ihm mit fast überschwänglicher Freude. Das erfahrene Krimipublikum ahnt es sofort: So heilig ist kein Mensch. Dieser Mann ist der Masken-Mann. Nur wenig später bestätigt sich dieser Verdacht - ein Wissensvorsprung für die Zuschauerinnen und Zuschauer.
Kurz darauf begeht Sommerfeldt seinen ersten Mord: Er tötet Beates Exfreund Michael Pelz, der junge Frauen mit K.-o.-Tropfen betäubte, nackt filmte und die Videos im Darknet verkaufte. Anhand der Messerstiche erkennt die Polizei, dass es sich beim Täter um den Mann handeln muss, der zuvor Ricklef überfallen hat.
Mephisto als Rächer der Missbrauchten und Misshandelten
Durch Zufall lernt Ann Dr. Sommerfeldt kennen - wegen starker Bauchschmerzen schleppt Rupert sie zu ihm. Während er den Mephisto aus Goethes "Faust" zitiert - genau, den Teufel! -, diagnostiziert Sommerfeldt eine Gastritis und rät Ann zu mehr Ausgleich: "Täglich in menschliche Abgründe schauen, das macht was mit der Psyche." Wer wüsste das besser als ein Psychopath?
Als Ricklef, trotz der Warnungen des Messer-Mannes, seinen kleinen Sohn ins Koma prügelt, sieht Sommerfeldt erneut rot - und begeht seinen zweiten Mord. Nun wird auch den Ermittlern klar: Jemand übt hier Selbstjustiz und ist stolz darauf. Ein Artikel des Reporters Bloem (Christian Ahlers) soll den narzisstischen Täter aus der Reserve locken. Und es funktioniert: Kurz darauf sitzt Sommerfeldt in Anns Büro ...
Hier könnte "Ostfriesentotenstille" auf klassische Weise zu Ende geführt werden. Doch stattdessen öffnet das letzte Drittel ein völlig neues, abstruses Kapitel rund um Sommerfeldts Vergangenheit - und führt die Handlung bis ins fränkische Bamberg. Ein seltsamer Bruch auf mehreren Ebenen.
Es muss sich dringend etwas ändern
Die große Stärke von "Ostfriesentotenstille" ist das zentrale Thema: häusliche Gewalt und Femizide. Die Polizei könne Gefährderansprachen halten und Annäherungsverbote ausstellen, doch das reiche nicht, beklagt Ann Kathrin Klaasen: "Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet, gerade weil sie ihn anzeigen oder verlassen will. Das ist doch scheiße."
Die wohl stärkste Szene des Films zeigt Kommissar Weller und Susanne Ricklef am Krankenbett des künstlich beatmeten Frithjof. "Immer das Gerede von den Leuten, warum ich ihn nicht schon früher verlassen habe. Weil ich Angst hatte, dass genau das passiert", erklärt sich die gebrochene Mutter. "Der wäre uns überall hin gefolgt." Erst jetzt scheint der sichtlich erschütterte Weller, der Ann zuvor noch vorwarf, den Fall zu nah an sich heranzulassen, das ganze Ausmaß zu begreifen: "Es tut mir sehr leid, dass wir Sie nicht beschützen konnten." Eine eindringliche politische Botschaft: Es muss sich dringend etwas ändern.